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Versteck in der Speisekammer

Das jüdische Mädchen Reli Alfandari lebte im Zweiten Weltkrieg in einer kleinen Kammer in Belgrad; fast so wie Anne Frank. 70 Jahre später helfen ihre Erinnerungen bei der Aufarbeitung des Holocaust.

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© Dragoslav Simic

Von Thomas Roser

Ausgerechnet an der Stätte des Grauens fühlte sich der deutsche Geschichtslehrer Andreas Roth in Serbiens Hauptstadt am Ende seines Pädagogenlateins. Zusammen mit seinen Schülern von der Deutschen Schule in Belgrad hatte er sich vor Jahresfrist mit dem Rad auf den Weg gemacht, um die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Staro Sajmiste aufzusuchen – das einstige Messegelände. Dort hatten die Nazis während der Besatzung im Zweiten Weltkrieg mehr als 7 000 Juden ermordet. Vor Kälte fröstelnd, lauschten er und seine Zöglinge dem Referat einer Mitschülerin. „Sie verfolgten ihre Ausführungen aufmerksam, aber ohne jegliche Empathie“, so erzählt der Lehrer zurückblickend. „Die Botschaft, dass es beim Holocaust um das größte Verbrechen der deutschen Geschichte ging, schien nicht anzukommen“, sagt er.

 Viele der Zeitzeugen sind inzwischen verstorben. 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs zerbrechen sich nicht nur Lehrer den Kopf, wie Jugendlichen der Holocaust noch so vermittelt werden kann, dass er nicht als abgeschlossenes und fernes Ereignis empfunden wird, sondern als Auftrag und Lehre für die Zukunft. Lehrer Roth stolperte Ende 2014 eher zufällig über die Lösung seines Dilemmas: Bei der Lektüre der Zeitung Politika stieß er auf einen Text über die Memoiren von Reli Alfandari Pardo – der Anne Frank aus Belgrad.

Tatsächlich sind die Parallelen der Leidensgeschichten von Reli Alfandari und Anne Frank während des Zweiten Weltkriegs frappierend. Die beiden jüdischen Mädchen wurden 1929 geboren. Beide waren knapp zwölf Jahre alt, als sie begannen, sich im Hinterhaus vor den Nazi-Schergen zu verstecken – die eine in Amsterdam, die andere in Belgrad. Natürlich gibt es Unterschiede. Anne Frank harrte gemeinsam mit ihrer Familie über zwei Jahre in ihrem Unterschlupf aus, ehe sie verraten wurde. Reli Alfandari hatte sich von ihrer Familie getrennt und in einer Speisekammer Zuflucht gefunden. Anne starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Reli überlebte. Aber auch ihre Eltern und ihr Bruder fanden im KZ Staro Sajmiste den Tod.

Erst Jahrzehnte später zeichnete die heute in Israel lebende 86-Jährige ihre Erlebnisse auf. Sie hielt fest, wie das Grauen der Judenverfolgung über ihre Familie kam. Ähnlich wie bei Anne Frank, deren Tagebuch ihr Vater nach Kriegsende veröffentlicht hatte, sind auch Reli Alfandaris Aufzeichnungen sehr persönliche Schilderungen aus Kindersicht, die den Leser berühren. In einer nüchternen Sprache  beschreibt die Tochter eines Belgrader Textilhändlers ihr gutbürgerliches Familienglück im Vorkriegs-Jugoslawien – und dessen Zerstörung durch Krieg, Besatzung und Verfolgung. „Der Krieg ist da, unglückbringend und bedrohlich – der Krieg, der Tod und Trauer mit sich bringt“, beschreibt Reli ihre Gefühle beim Verlassen des Luftschutzkellers nach der ersten Bombardierung. „In nur einer Dreiviertelstunde endete unser sorgloses Leben, von dem nur noch Erinnerungen geblieben sind. Die Gegenwart, das ist Rauch, ein Himmel in Flammen, Leute in Unterwäsche mit nackten Beinen und verlorenen Blicken.“

Lehrer Andreas Roth las Relis Erinnerungen mit wachsender Faszination. 2005 hatte sie ihre Aufzeichnungen erstmals auf Serbisch veröffentlicht. Sie riefen bei dem Lehrer genau das hervor, was er bei seiner Schüler-Exkursion nach Staro Sajmiste vermisst hatte – Anteilnahme und Mitgefühl. Ein Mädchen, so alt wie seine Schüler, berichtet in dem Buch über ihre erschütternden Erfahrungen. Warum sollten ihre Berichte bei seinen Schülern nicht die gleiche Empathie erzeugen wie bei ihm?

So wurde die Idee geboren, dieses Buch zu übersetzen. Seine Schüler sollten das tun. Reli Alfandari hatte in ihren Aufzeichnungen geschrieben, dass sie nie wieder mit Deutschen zu tun haben wollte. So suchte der Lehrer über den Großvater eines Schülers Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Belgrad. Schnell fand sich dort ein Unterstützerkreis für die Idee. Sie beschlossen, die Autorin für das Projekt zu gewinnen und Helfer zu suchen. So erklärte sich der Schriftsteller David Albahari bereit, die Übersetzung zu begleiten. Und auch die Autorin gab schließlich grünes Licht. So machten sich 18 freiwillige Übersetzer begeistert  an ihre Arbeit. Die Kapitel wurden nach dem jeweiligen Alter der Schüler verteilt. Die jüngeren übersetzten die Erinnerungen, als Reli zwölf und dreizehn Jahre alt war. Die älteren Schüler ihre Erlebnisse mit 14 und 15 Jahren.

Da die Übersetzer gleichaltrig waren, sollten sie den Erinnerungen eine authentische und zeitgemäße deutsche Sprache geben, so die Überlegung. „Und ich, ich weine, aber keine Träne benetzt meine Wange“, beschreibt Reli die Szene, als ein deutscher Soldat ihre zierliche Mutter zwingt, seinen schweren Koffer kilometerweit zum Belgrader Bahnhof zu schleppen. „Ich fühle, dass ich klein und schwach bin. Mama, die alles für mich getan hat, steht jetzt vor mir, und ich tue nichts für sie. Wir leben in einer Welt der Hexen, wo keine einzige gute Fee kommt, um die Unschuldigen zu retten – und die Mörder zu bestrafen.“

 Nach dem Vater und dem Bruder verschwand bald auch Relis Mutter im KZ. Versteckt in der Speisekammer eines eher widerwilligen Angestellten ihres Onkels, überlebte Reli Alfandari den Krieg. „Das Buch wird zu meinem einzigen Freund“, beschreibt sie die Tage auf ihrer Matratze. „Ich vergesse den Krieg, die Deutschen, die Angst, und ich lebe die Tausende von Leben der Helden aus meinen Büchern.“ Auch Tagträume helfen dem Mädchen, ihren bedrückenden Alltag und die unerfüllte Sehnsucht nach ihrer Familie zu vergessen: „Ich stelle mir ein normales Leben vor. Ich kann mich aufstehen sehen und beobachte mich, wie ich mit meiner Familie frühstücke. Jeden Tag erlebe ich ein anderes Abenteuer. So kann ich ein Leben voller Freiheiten genießen und tausend Gefühle durchleben, die sonst verboten sind.“

Ein Sponsor ermöglichte es, das Buch zu drucken. Die deutsche Ausgabe trägt den Titel Zuckerschlecken. Zur Präsentation im Mai reisten Reli Alfandaris Tochter und Enkelin aus Israel an. Die betagte Autorin ließ Lehrer Roth in einer E-Mail wissen, dass sie nun einsehe, dass man ein Volk nie kollektiv anklagen könne – „auch die Deutschen nicht“. Sie bedankte sich bei ihren Übersetzern für deren Arbeit.

Nicht nur der elfjährigen Lena Bode hat Relis Buch eine ganz neue Sicht auf Geschichte beschert: „Um ihre Erinnerungen übersetzen zu können, musste ich mich in sie hineinversetzen“, sagte sie bei der Vorstellung der deutschen Ausgabe. Mehr hatte Lehrer Roth gar nicht gewollt.

Reli Alfandari Pardo, Zuckerschlecken, herausgegeben von der Deutschen Schule Belgrad. Das Buch wird gegen eine 5-Euro-Spende abgegeben. Kontakt: [email protected]