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Verräter oder Märtyrer?

Murat Tekin, 21 Jahre alt, stirbt beim Putsch im Juli 2016 in der Türkei. Vermutlich wurde er brutal gelyncht. Eine Geschichte aus einem Land, in dem Hass, Ungerechtigkeit und Misstrauen herrschen.

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Von Mirjam Schmitt, Istanbul

Als Sedat Tekin seinen Sohn Murat nach zehn Tagen endlich findet, kann er ihn nur an drei Malen im Gesicht und am abgebissenen Daumennagel identifizieren. Diese Besonderheiten des 21-Jährigen erkennt er trotz der Blutergüsse. Fast zwei Jahre sind seit Murats Tod und dem Putschversuch in der Türkei vergangen. Doch das flaue Gefühl im Magen wird Tekin nie vergessen, das ihn an jenem Julitag 2016 vor der Istanbuler Gerichtsmedizin überfiel.

Sedat Tekin mit einer Fotografie seines getöteten Sohnes Murat.
Sedat Tekin mit einer Fotografie seines getöteten Sohnes Murat. © picture alliance/dpa
Die Eltern im Wohnzimmer ihres Hauses. Der Raum ist zu einer Art Schrein für ihren verstorbenen Sohn Murat geworden, mit Uniformen, Habseligkeiten und Fotografien. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt.
Die Eltern im Wohnzimmer ihres Hauses. Der Raum ist zu einer Art Schrein für ihren verstorbenen Sohn Murat geworden, mit Uniformen, Habseligkeiten und Fotografien. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt. © picture alliance/dpa

Es war fast der einzige Ort, an dem der Vater noch nicht gesucht hatte. Nachdem Sedat Tekin die rund 500 Kilometer aus der Küstenstadt Izmir nach Istanbul gefahren war, hatte er Krankenhäuser abgeklappert. Er hatte vor dem Gericht selbst gewartet, wohin mutmaßliche Putschisten gebracht wurden. Vielleicht ja auch Murat? Als letzte Option blieb die Gerichtsmedizin.

„Ich weiß nicht mehr, wie ich es überhaupt dorthin geschafft habe“, sagt der 57-Jährige. Er zeigt ein Foto seines Sohnes, wie er ihn dort vorfand: Murat, Offiziersanwärter, der Körper entstellt von Tritten, Schlägen, Messerstichen, das Gesicht geschwollen. Sedat Tekin unterschrieb damals ein Schreiben, datiert auf den 26. Juli 2016. Darin gibt er zu Protokoll: „Ich hatte meinen Sohn der Luftwaffenakademie in Istanbul Yesilköy anvertraut. Ich hole seine Leiche.“

In der Nacht des Putschversuchs gegen den gewählten Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vom 15. Juli 2016 starben mehr als 200 Menschen – viele davon Zivilisten. Sie wurden erschossen oder von Panzern überrollt. Es gab mehr als 2 000 Verletzte. Alleine auf der ersten Brücke über den Bosporus in Istanbul, die nun „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ heißt, starben 32 Zivilisten und zwei Polizisten.

Das Volk habe sich den Putschisten in den Weg gestellt – diese Version der nächtlichen Abläufe erzählt vor allem Präsident Erdogan gerne. Viele Aufständische starben in Gefechten mit der Polizei. Doch es gibt auch ungeklärte Fälle, wie den Murat Tekins und seines Kameraden Ragip Enes Katran. Beide waren Schüler an der Luftwaffenakademie in Istanbul. Sie wurden in der Putschnacht auf der Brücke vermutlich von einem Mob gelyncht. Doch in den Opferstatistiken tauchen sie nicht auf. Es läuft keine Ermittlung gegen mutmaßliche Täter. Murat und Ragip passen nicht in die Legende. Sie gelten als Verräter.

Der Umsturzversuch war ein Schock für viele in der Türkei. Er hat das Land grundlegend verändert. Er hat die Türken zunächst geeint gegen die Putschisten. Und dann, in zwei Jahren Ausnahmezustand, wieder gespalten. Für Sedat Tekin und seine Frau Sevkiye war der 15. Juli 2016 darüber hinaus der Tag, an dem sie begannen, das Vertrauen in ihren Staat, ihren Präsidenten, in die Gerechtigkeit zu verlieren.

Die Tekins wohnen in einem Arbeiterviertel in Izmir. An der Hauswand weht die türkische Flagge, rot mit weißem Halbmond und Stern. Das Wohnzimmer gleicht einem Schrein für Murat: Fotos zeigen den Sohn im Fliegeranzug. Murat in Ausgehuniform. Murat mit Schulkameraden – und als kleiner Junge. Meistens schaut er ernst. Auf dem Fernseher liegt seine blaue Schirmmütze. „Unseren Sohn nennen sie Verräter, aber mein Kind ist ein Märtyrer“, sagt Murats Mutter Sevkiye Tekin.

Eine Einstufung als „Märtyrer“ bringt in der Türkei nicht nur finanzielle Hilfen für die Familie. Der Status bedeutet vor allem Ehre. „Verräter“ ist dagegen ein Stigma, das Murats Eltern nur schwer verkraften können. „So einen Putsch kann niemand akzeptieren, der sein Vaterland liebt“, sagt die 53-jährige Mutter. Die Schuldigen müssten vor Gericht gestellt werden. „Aber solche wie mein Kind, die sind unschuldig. Er hat sein Vaterland geliebt.“ Sevkiye Tekin spricht leise und bestimmt. Sie zieht ihr Kopftuch zurecht, wirkt ruhig. Ihr Mann dagegen läuft hin und her. Er schreit fast: „Wir wollen, dass diese Mörder bestraft werden.“ Der mutmaßliche Lynchmord an Murat ist durchaus in der Öffentlichkeit bekannt. Der Oppositionsführer im türkischen Parlament, Kemal Kilicdaroglu, besuchte Murats Familie. Und er sprach den Fall im Abgeordnetenhaus an. Doch herausgekommen ist bisher wenig.

Kübra Aydin, eine Anwältin aus Istanbul, hat den Fall der Familie Tekin übernommen – ehrenamtlich. Sie sammelte Indizien: Videos, Bilder, Twitter-Nachrichten. Sie hat gefordert, die Identitäten hinter verdächtigen Social-Media-Accounts offenzulegen. Sie stellte mehrere Anträge an die Staatsanwaltschaft in Istanbul. In einem schreibt sie: „Wir fordern, dass dieses Drama der Menschlichkeit nicht ungestraft bleibt.“ Die „Putsch-Kommandeure“ hätten Murat und seine Kameraden „regelrecht dem wütenden Volk hingeworfen“. Der Staatsanwaltschaft wirft sie Ignoranz vor. Von Ermittlungen ist nichts bekannt.

Im Dezember 2017 erließ Erdogan das Notstandsdekret 696. Es gewährt Menschen Straffreiheit, die sich gegen die Putschisten stellten. Auch solchen, die massiv gewalttätig wurden. Damit sind auch Murats mutmaßliche Angreifer geschützt.

Sedat Tekins Stimme überschlägt sich fast, als er über das Dekret spricht: „Zu sagen, ich stelle diese Mörder nicht vor Gericht, ist ein Verbrechen“, sagt er. Es gebe keine Gerechtigkeit im Land. „Alles wird von einer Person kontrolliert.“ Sedat Tekin und seine Frau hatten immer Erdogans islamisch-konservative AKP unterstützt.

Mit 13 Jahren schickten die Tekins ihren Sohn Murat auf ein Internat in Bursa und später auf die Luftwaffenakademie. „Er wollte immer Soldat werden“, erinnert sich die Mutter. Zuerst sei es ihr schwergefallen, ihren Sohn so jung ziehen zu lassen. „Er ist ja nur in den Ferien zu Hause gewesen“, erzählt Sevkiye Tekin. Doch sie habe die Zähne zusammengebissen. Der Vater war 20 Jahre als Träger in einer Tabakfabrik beschäftigt, schleppte bis zu 80 Kilo auf seinen Schultern. 2005 ging er in Pension, arbeitete aber weiter als Chauffeur, weil die Rente nicht reichte. Nach Murats Tod hörte er auf. Er sei psychisch kaputt, sagt er. Murat sollte es besser haben. „Wir haben uns gesagt, er soll eine gute Arbeit haben, eine gute Zukunft“, sagt die Mutter.

Sedat Tekin unterbricht seine Frau, er redet nicht gern darüber, wie Murat war. Er spricht lieber über Verantwortliche. Tekin steckt einen USB-Stick in den PC und zeigt ein Video, das mutmaßlich in der Putschnacht auf der Brücke aufgenommen wurde und in sozialen Medien kursierte. Es ist schon Morgen. Jemand filmt mit dem Mobiltelefon und läuft im Laufschritt über die Brücke. Der Mann sagt: „Wir haben schon vier umgebracht, jetzt sind wir beim Fünften. Hund!“ Man hört Schüsse. Er läuft auf eine Gruppe zu. Vor ihnen liegt ein lebloser Soldat. Der Kopf des Mannes ist von Blut überströmt. Mehrere treten auf ihn ein.

Am 13. Juli 2016 telefonierte Sevkiye Tekin das letzte Mal mit ihrem Sohn. Er war auf dem Weg nach Yalova in ein Ausbildungscamp in der Nähe von Istanbul, ein Sommercamp. Murat war aufgeregt. Er sollte das erste Mal alleine fliegen. „Mama, hat er gesagt, mach dir keine Sorgen. Du weißt, wir dürfen im Camp kein Telefon oder Computer benutzen.“ Das war das letzte Mal, dass sie mit ihm sprach.

Die türkische Regierung ist der Überzeugung, dass Soldaten aus dem Umfeld der Gülen-Bewegung geputscht haben. Der islamische Prediger Fethullah Gülen selbst soll von den USA aus die Fäden gezogen haben. Vieles über die Putschnacht ist noch unklar. Inzwischen wurde jedoch bekannt, dass der Geheimdienst MIT schon am Nachmittag des 15. Juli den Tipp eines Soldaten erhielt und von einem geplanten Aufstand von Soldaten wusste. Die Untersuchungskommission – die manches untersucht hat und vieles nicht – kommt zu dem Schluss, dass die Putschisten den Staatsstreich eigentlich nachts um drei Uhr durchziehen wollten, ihn aber vorzogen, weil sie verraten wurden.

Das Sommercamp, in das sich Murat verabschiedet hatte, liegt etwa anderthalb Autostunden von Istanbul entfernt. Seine Mitschüler haben ausgesagt, dass die Kommandeure sie nachts wecken ließen und in Busse verfrachteten. Man habe ihnen gesagt, es handele sich um eine Nachtübung und brachte sie zur Brücke. Dass der Umsturzversuch da schon im vollen Gange war, hätten sie nicht gewusst.

Wegen der Vorfälle auf der Brücke sind insgesamt 143 Soldaten angeklagt. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft. Unter den Angeklagten sind 48 Mitschüler Murats, allesamt in Untersuchungshaft. Würde Murat noch leben, stünde er wahrscheinlich auch vor Gericht. In der Anklageschrift wird er als toter Verdächtiger geführt.

Die Verhandlung zum Geschehen auf der Brücke findet im Istanbuler Stadtteil Büyükcekmece statt, irgendwo auf dem Weg zwischen dem Flughafen Atatürk und dem Gefängnis Silivri. Der Gerichtssaal liegt neben einer vierspurigen Straße. Autos rauschen vorbei. Genau genommen ist das Gebäude kein Gerichtssaal, sondern eine Sporthalle. Sie wurde, wie so viele, wegen der Massenprozesse umgebaut.

Wo einmal der Basketballkorb hing, steht jetzt das Richterpult. Auf der gegenüberliegenden Zuschauertribüne sitzen Eltern, Brüder und Schwestern der Angeklagten. Viele Familien hier sind konservativ wie die von Murat. Sie haben früher die AKP und Erdogan gewählt. Doch seit ihre Kinder in Untersuchungshaft sitzen und als Putschisten angeklagt sind, ist es mit der Unterstützung vorbei. An diesem Verhandlungstag im März werden nicht die Angeklagten, sondern die Kläger gehört: Zivilisten und Polizisten, die auf der Brücke verletzt wurden und deren Freunde oder Angehörige getötet wurden. Ein Zeuge sagt aus, ein Soldat habe ihn auf der Brücke mit dem Gewehrkolben geschlagen. Er kann keinen der Angeklagten identifizieren.

Die „Brücke der Märtyrer“ spannt sich rund 1,5 Kilometer von der europäischen zur asiatischen Seite Istanbuls. Der Bus mit Murat und seinen Mitschülern kam gegen 1.40 Uhr am Brückeneingang auf der asiatischen Seite an. So zeigen es Bilder von Überwachungskameras. Etwa eine Viertelstunde zuvor hatten Putschsoldaten zahlreiche Zivilisten auf der Brücke erschossen. Um 0.28 Uhr hatte Präsident Erdogan das Volk aufgerufen, sich den Putschisten in den Weg zu stellen.

Die Schüler geben zu Protokoll, manche Zivilisten hätten sie schon bei der Ankunft an der Brücke angegriffen. Sie berichten von Chaos. Sie berichten von Gefechten, die sie hinter einem Militärfahrzeug kauernd abgewartet hätten. Keiner der Schüler habe auf Zivilisten geschossen. Die Staatsanwaltschaft dagegen beschuldigt die Kadetten, am Putsch aktiv beteiligt gewesen zu sein.

Gegen 6.30 Uhr des 16. Juli ergaben sich die Putschisten auf der Brücke. Es war schon hell. Auch Murat und seine Kameraden erhielten den Befehl, sich zu ergeben und legten die Waffen nieder, wie Kadetten zu Protokoll gaben. „Das Volk kam auf uns zugerannt. Wir dachten, sie wollten uns lynchen. Wir sind zurück in Richtung europäische Seite gerannt. Die Polizei hat gerufen, legt euch auf den Boden, und hat in die Luft geschossen. Auf vier, fünf meiner Kameraden wurde eingestochen. Ich wurde auch verletzt“, erzählt einer.

Auf Bildern einer Überwachungskamera, die Anwältin Aydin ihren Unterlagen beigefügt hat, ist aus der Ferne zu sehen, wie die entwaffneten Soldaten am Boden kauern. Plötzlich kommen Zivilisten auf sie zugestürmt, Soldaten laufen in Panik weg. Einige schaffen es nicht, werden geschlagen. Polizisten setzen Wasserwerfer ein, wollen die Menge auseinandertreiben – das scheitert. Am Ende bleiben zwei leblose Körper liegen. Das könnten Murat und Ragip gewesen sein.

Sedat Tekin hat die Leiche seines Sohnes von Istanbul nach Izmir gebracht. Neben Murats Grab weht eine türkische Flagge. In den Grabstein ist sein Foto eingelassen. Die Mutter streicht darüber. „Auf diese Art zu sterben, das hat niemand verdient“, sagt sie. „Der Staat muss vor uns Rechenschaft ablegen. Dafür kämpfen wir.“ (dpa)