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Unter Strom

Eigentlich undenkbar: Meißens Stadtwerke-Chef Hans-Jürgen Woldrich verabschiedet sich bald in den Ruhestand.

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© Claudia Hübschmann

Von Peter Anderson

Meißen. Der Chef ist heute urlaubsbedingt seine eigene Sekretärin. Dazu gehört auch das Kaffeezubereiten. Die erste Tasse klappt noch nicht so ganz, aber die zweite! Feine Crema und ein Duft nach frisch gemahlenen Bohnen. Hans-Jürgen Woldrich lächelt zufrieden. Nur nicht aus der Ruhe bringen lassen, wenn einmal etwas nicht auf Anhieb funktioniert, scheint seine Miene zu sagen. In den vergangenen 23 Jahren ist der Chef der Meißner Stadtwerke schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden, als einer störrischen Kaffeemaschine.

In einem neuen Trafo-Haus: Unter der Führung von Hans-Jürgen Woldrich haben die Meißner Stadtwerke in den vergangenen Jahren über 120Millionen Euro in die Infrastruktur der Stadt gesteckt.
In einem neuen Trafo-Haus: Unter der Führung von Hans-Jürgen Woldrich haben die Meißner Stadtwerke in den vergangenen Jahren über 120Millionen Euro in die Infrastruktur der Stadt gesteckt. © Claudia Hübschmann

Die Zeitreise mit Hans-Jürgen Woldrich, der Ende des Jahres in den Ruhestand gehen wird, beginnt im Jahr 1994. Drei Jahre zuvor hatte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) folgenden Satz geäußert, der mittlerweile Einzug in die Geschichtsbücher gehalten hat: „Und ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass wir in den nächsten drei bis vier Jahren in den neuen Bundesländern blühende Landschaften gestalten werden ….“ Die westdeutschen Aufbauhelfer des Pfälzers nahmen die Aussage wörtlich und planten beim Aufbau einer modernen Infrastruktur in Sachsen für ein zweites Wirtschaftswunder. Riesige Kläranlagen entstanden und in Meißen die Basis für ein breites Fernwärmenetz. Statt drei bis vier Jahre ließen Kohls blühende Landschaften allerdings ein Viertel Jahrhundert auf sich warten, mit Folgen für das Fernwärmenetz: Die MSW zahlen die dafür aufgenommenen Kredite bis heute ab.

Was dem einen sein Unglück ist dem anderen sein Glück. Die überdimensionierte Fernwärme drohte die Meißner Stadtwerke kurz nach ihrer Wiedergeburt in den Konkurs zu treiben. Frisches Geld wurde gebraucht und ein neuer Chef. Hans-Jürgen Woldrich hörte auf den Rat seines Vorgesetzten beim damaligen Großversorger Esag: Lieber in einem kleinen Unternehmen an erster Stelle, als in einem großen Konzern in der zweiten Reihe. Die Bedenkzeit im September betrug ein Wochenende. Das nutzt der heute 64-Jährige, um mit seiner Frau nach Meißen zu fahren und die Stadt aus der Perspektive eines angehenden Geschäftsführers und nicht des Touristen zu betrachten. Montag früh sagte er zu.

Wiederum fast ein Viertel Jahrhundert später sitzt der sympathische Schnauzbartträger an seinem großen dunkelgrün marmorierten Schreibtisch im zweiten Obergeschoss der MSW-Zentrale auf der Karl-Niesner-Straße im Triebischtal. Aufgeräumt sieht es aus. Der Chef mag Ordnung. Die Arbeit versteckt sich in drei dicken Aktenstapeln am Rand der Arbeitsplatte und auf der Festplatte des Rechners. Draußen hat der Herbst die Blätter bunt gefärbt. Ein kurzer Schauer zieht vorüber. Bei geöffnetem Fenster wäre vermutlich das Rauschen der Triebisch hörbar. Der Fluss liefert das entscheidende Stichwort.

2002 war nur der Anfang

Hans-Jürgen Woldrich kann den Regen immer noch hören. Dieses unaufhörliche Trommeln im August 2002. Wie aus Kannen hat es damals geschüttet. So umschreibt es der Sachse. Aus heutiger Sicht klingt das naiv. Damals aber standen die Menschen vor einer völlig ungewohnten, neuen Situation. „Als ich von Meißen nach Dohna zu meiner Familie fahren wollte, war am Müglitztal Schluss“, erinnert er sich. Das Flüsschen hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt und war mit bis dato unbekannter Kraft durch sein Bett gefegt; Brücken zerstörend, Häuser umreißend. Die Triebisch folgte fast parallel diesem Beispiel.

2002 war nur der Anfang. Es folgten das Schmelzhochwasser 2006 und die Juni-Flut 2013. Jedes Mal setzte ein neuer Lernprozess ein, wurden Konsequenzen gezogen, die Notfallpläne überarbeitet, überlegt, wie sich ähnliche Schäden künftig vermeiden lassen könnten. „Ich denke, wir haben in den vergangenen Jahren getan, was wir tun konnten“, sagt der Stadtwerke-Chef. Beim letzten Hochwasser vor drei Jahren hätte es sich bereits gezahlt gemacht, dass die Anschlüsse nach oben gelegt wurden, dass jeder genau wusste, was im entscheidenden Moment zu tun war. Wo es irgend ging, ohne ein zu hohes Risiko einzugehen, blieben Straßen und Häuser am Netz.

Eine abgewendete Insolvenz, drei Hochwasser – die großen Herausforderungen können schnell die Mühen der Ebene überdecken. „Über 80 Prozent der Meißner sind unsere Kunden“, sagt Hans-Jürgen Woldrich. Ihnen seien die Stadtwerke verpflichtet. Also ob ihn sein Job nicht bereits genug unter Strom setzen würde, hat der MSW-Chef die vergangenen anderthalb Jahrzehnte hinter den Kulissen auf den verschiedensten Ebenen gewuselt. Flagge zeigen! Das ist sein Motto gewesen und wird es bleiben: Bei der Obdachlosenhilfe, im Weinbauverband und Tourismusverein, beim Pokal der Blauen Schwerter und den Burgfestspielen. Die Aufzählung gibt nur einen Bruchteil wieder.

Jegliches hat seine Zeit. „Manche halten meine Frau und mich für verrückt. Aber wir fahren jeden Sommer mit drei Enkelkindern an die Ostsee.“ Kraft und Ruhe – beides kann der Stadtwerkechef dafür gut gebrauchen, bald ganz konzentriert auf die Familie. Zuhause im Dohnaer Grundstück, im Landkreis Pirna – seiner eigentlichen Heimat – warten jede Menge Aufgaben. Im Gegensatz zu den Elbefluten hat er sich die selbst gestellt. Und wenn einmal etwas nicht auf Anhieb funktioniert, dann wird er sich einen Kaffee machen, kurz ausspannen, an Meißen denken, und einen zweiten Versuch starten.