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Unter Rabenmüttern

Julia Reichel will Mamas den Druck nehmen, perfekt funktionieren zu müssen. Eine Depression öffnete ihr die Augen.

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© Christian Juppe

Von Henry Berndt

Also mein Kind schläft selbstverständlich durch, eigentlich schon von Anfang an. Mein Kind isst einfach alles. Und mein Kind schreit übrigens nie. Die Krabbelgruppe als Inbegriff der heilen Welt, in der jeder von seinem perfekten Mutterdasein schwärmt, ist für Julia Reichel ein Graus. Als die 32-Jährige vor fünf Jahren ihre Tochter Teresa zur Welt brachte, da war gar nichts perfekt.

Im Wochenbett rutschte sie in eine Depression, wurde von einer schweren Angststörung heimgesucht. „Ich konnte nicht mehr einkaufen gehen und nicht mehr Autofahren“, sagt die Mutter, die damals bereits einen achtjährigen Sohn hatte. Am liebsten hätte sie jemandem erzählt, wie dreckig es ihr nun ging – doch ihr fehlten die Zuhörer. Erst in der Uniklinik konnte Julia geholfen werden. Sieben Wochen lang blieb sie gemeinsam mit Teresa in der Mutter-Kind-Tagesklinik, fuhr nur zum Schlafen nach Hause. „Weitergebracht haben mich vor allem die Gespräche mit den anderen Müttern“, sagt sie.

Nun, fünf Jahre später, sitzt Julia Reichel gemeinsam mit vier anderen jungen Frauen und ihren Kindern an einem Freitagmorgen beisammen. Sie singen „Hallo, schön, dass du da bist“, essen Brötchen mit Marmelade und trinken Kaffee. Eine Krabbelgruppe also? Eher nicht. Auch wenn sich die Babys auf den ausgebreiteten Decken natürlich auch wohlfühlen dürfen, geht es hier ausnahmsweise mal um die Mamas. Einmal in der Woche treffen sich im großen Besprechungsraum der Begegnungsstätte der Volkssolidarität in der Friedrichstadt Mütter mit sogenannten postpartalen psychischen Erkrankungen, also Problemen, die nach der Geburt auftreten können: Wochenbettdepression, Angststörung, Zwänge, Burn-out. Es sind Frauen dabei, die sich zeitweise wünschten, ihr Kind wäre nie geboren worden, die gern einfach untertauchen würden, ohne ihrer Familie etwas zu sagen, die jahrelang über eine künstliche Befruchtung auf die Schwangerschaft hingefiebert haben und jetzt nur noch Leere fühlen.

Statt Heile-Welt-Bla-Bla gibt es in Julias Runde viele offenen Ohren. „Bei uns kann man auch sagen, dass man gerade keine Lust auf sein Kind hat“, sagt sie. Ihre Selbsthilfegruppe nennt sich „Rabenmütter“ – ein Name, der erst einmal skurril klingt. „Frauen werden doch ganz schnell als Rabenmütter abgestempelt, sobald sie überfordert sind“, sagt Julia. Sie zum Beispiel litt nie an der klassischen Bindungsstörung im Wochenbett und habe ihre Tochter von Anfang an über alles geliebt. Dennoch spielte ihr Kopf verrückt. Den provokanten Titel hat Julia bewusst gewählt, um zu zeigen, dass man es sowieso nicht jedem recht machen kann. „In unserer Gesellschaft müssen Mütter immer glücklich sein, schnell wieder gut aussehen und ihren Partner befriedigen.“ Nach wenigen Tagen im Krankenhaus würden sie sich allein überlassen. Die gesellschaftlichen Zwänge prägten die Frauen von Anfang an. „Viele bekommen Panikattacken, wenn ihr Kind in der Straßenbahn schreit oder wenn das Stillen nicht auf Anhieb klappt.“

Aus der Apotheke in die Familie

Julia könnte sich gut in Rage reden, so wütend macht sie das. Doch sie hat sich für einen anderen Weg entschieden. Nachdem sie selbst lange vergeblich nach einer Selbsthilfegruppe gesucht hatte, rief sie vor vier Jahren die „Rabenmütter“ ins Leben. Anfangs waren sie nur zu zweit, doch bald sprach sich ihr Angebot rum. Jetzt kommen meist zwischen fünf und zehn Mütter mit ihrem Nachwuchs. Einige sind schon lange regelmäßig dabei. Andere kamen nach Jahren mit einem neuen Kind zurück – und gaben ihre guten und schlechten Erfahrungen weiter.

„Bei uns sind dicke Freundschaften entstanden“, sagt Julia. „Man geht zusammen ins Kino oder passt mal auf die Kinder der anderen auf.“ Ihr gemeinsamer Mittelpunkt aber bleiben die Freitagsrunden. Gesungen wird immer am Anfang und Ende, dazwischen gibt Julia keinerlei Programm vor – nur den Raum und die Zeit. „Es wird auch niemand gezwungen zu reden. Und wer sich nicht wohlfühlt, der geht einfach wieder.“ Am Ende will Julia bei ihren Müttern vor allem eine Erkenntnis wecken: „Frauen mit einer psychischen Erkrankung können trotzdem eine gute Mutter sein.“

Als sie sich vor fünf Jahren gerade selbst aus der Depression herausarbeitete, nutzte sie die Chance, um auch beruflich neue Wege zu gehen. Vorher verkaufte sie Medikamente in einer Apotheke. Nun schulte sie zur Mütterpflegerin um. Mütterpflegerin? „Anderswo ist der Begriff schon viel bekannter“, sagt Julia. Als „gute Fee“ begleitet sie Mütter und Familien in der Zeit nach der Geburt. Im Februar machte sie sich damit selbstständig. Ihr Angebot sei aber keine Therapie und ersetze auch die Hebamme nicht, die sich ja eher um medizinische Fragen kümmert. Und die Kosten? Ihre Dienste sind grundsätzlich eine Privatleistung, aber einen Teil könnten sich die Familien bei der Krankenkasse zurückholen.

Ganz nach den Wünschen räumt sie die Wohnung auf, massiert die Mutter, kauft ein, fährt das Baby spazieren oder hört zu. Für einen Moment hält Julia inne, blickt stumm an die Decke. „All das, was mir damals gefehlt hat“, sagt sie schließlich.

www.dresdner-rabenmuetter.de