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Unsere fünfte Jahreszeit

In der Weihnachtsstube von Matthias Griebel drehen sich die Pyramiden fast von selbst, und die Moosleute hören die erstaunlichsten Geschichten vom Elbhang.

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© André Wirsig

Von Karin Großmann

An das schönste Weihnachtsgeschenk der Kindheit kann sich Matthias Griebel gut erinnern. Es war ein halbes Brot. Wer weiß, woher es die Mutter hatte. Das findet er noch heraus, weil er alles herausfinden kann. Im ersten Winter nach dem Krieg war Brot eine Kostbarkeit. Zu Fasching spielten die Jungs nicht Indianer, sondern dicker Mann. „So auszusehen, das war unsere Sehnsucht“, sagt Griebel. Geschafft hat er das nie.

Jetzt beschenkt er sich selbst. Jedes Jahr kommt was dazu. „Bis die Bude voll ist.“ Doch das ist sie schon. Auf allen Regalen und Fensterbrettern stehen Bergmänner, Moosweiblein und Lichterengel beiderlei Geschlechts. Manche sind zwei Jahrhunderte alt, andere zwei Wochen. Griebel interessiert sich für die Moderne genauso wie für die Tradition. Kunsthandwerker, sagt er, setzen die Bräuche von früher fort, deshalb muss man sie unterstützen. In fünfzig Jahren werden sie selbst schon wieder alt sein. Erinnerung? „Ich lebe doch jetzt!“ Entrüstetes Augenfunkeln. Matthias Griebel ist ein Mann, der sich in der Vergangenheit auskennt wie wenige – aber er ist kein Mann der Vergangenheit. „Man muss die Zeit meistern, die man durchlebt.“

Freunde nennen ihn Matz. Für viele ist er ein Dresdner Original, weil er in hintergründigem Sächsisch „butzsche“ Sachen aus der Heimat erzählt. Manche beschreiben ihn als Bohemien aus der Nischengesellschaft der DDR, das gefällt ihm noch weniger. Das Feld, das er beackerte – und zunächst wirklich als staatlich geprüfter Landwirt –, dieses Feld hat er mit List und Lust ausgeweitet. „Ich hab’s immer so gemacht, wie ich wollte, und es trotz aller Querelen hinbekommen.“ Ein Bohemien würde Bücher nie alphabetisch sortieren.

Was ist er dann? Ein Lebenskünstler am Loschwitzhang? Der Ort kann gerade noch gelten. Hinter dem Haus beginnt schon Wachwitz. Vier Rehe wechseln ohne Scheu über die Grenze am Dresdner Stadtrand. Griebel wohnt in der Verwaltung des Sanatoriums, das es längst nicht mehr gibt. Im ehemaligen Pförtnerhaus nebenan hat er sein Archiv eingerichtet, um das ihn jeder sächsische Heimatkundler beneidet. „Ich kann in Filzlatschen auf Arbeit gehen, schön, nicht?“

Matthias Griebel hat Hausfilzpantoffeln und Hoffilzpantoffeln, einen markanten Schnauzbart und flinke lustige Augen. Er kann seine Majestät König Albert mit wehendem Federbusch auf dem Helm ebenso überzeugend darstellen wie eine Vogelscheuche, einen Kurpfuscher oder den Nachthimmel – was beim Elbhangfest gerade gebraucht wird. Hauptsache, er darf dabei rauchen. Ohne ihn gäbe es dieses Fest und manches andere nicht. Beim ersten Mal saß er zwischen Denkmalpfleger Hans Nadler und Kammersänger Theo Adam.

Er sei ein geselliger Einzelgänger und ein stadtbekannter bunter Hund, sagt Griebel über Griebel. Im Februar wird er achtzig. Da widerspricht man nicht.

Aber darf doch ergänzen, dass er vor allem ein tüchtiger Arbeiter ist, der Bücher schreibt und Lebensläufe erforscht und mit seiner Neugierde und Begeisterung andere antreibt. Griebel hat sich schon in fürstliche Regionalgeschichte vergraben, als das noch ein Akt des Widerstands war. Geschichte wird immer neu geschrieben. „Eine eigenwillige Darstellung“ nennt er es, wenn Historiker nun Trümmerfrauen in Dresden und Tiefflieger als Mythos abtun. Das, sagt Griebel, hat er von seinem kriegserfahrenen Vater anders gehört. Auch der Blick auf DDR-Geschichte missfällt ihm mitunter. „Da stößt man auf Ignoranz und darf mal daran erinnern, dass es ein Luther-Jahr gab und Karl May und Schnapsflaschen mit dem Sachsenwappen.“ Auch ein heiterer Optimist wie er kann sich ärgern.

Nur nicht abends halb fünf im Advent. Dann ist Dämmerstunde. Dann wird gelichtelt. Dann zieht sich Matthias Griebel in den Sessel am Fenster zurück, sieht der Pyramide beim Drehen zu und liest im Weihnachtsbuch seines Vaters. Der war ein berühmter Mann. Seine Totenmaske und der Abguss der Malhand liegen im Vertiko hinter Glas. Vermutlich leben wenige Menschen auf diese Weise mit der werten Verwandtschaft.

In seinem Buch hat der Vater in einer gleichmäßig runden, winzigen Schrift notiert, wie der Baum geschmückt war, was es zu essen gab und wer zu Besuch kam. Diese besondere Familiengeschichte reicht von 1945 bis 1964, bis die sechs Kinder aus dem Haus waren. Die einen interessierten sich für Technik, die anderen für Kunst. Matthias Griebel gehört zu den anderen. Er fährt nicht Auto, besitzt kein Handy, keinen Computer und keinen Fotoapparat. Das schwarze Telefon in der Weihnachtsstube hat eine Wählscheibe. Lediglich zwei Kopierer erhielten ein Bleiberecht. Griebel ist ein Netzwerker ohne Netz.

Zwei kleine Pyramiden drehen sich wie verrückt ohne Kerzen, weil sie auf der Heizung stehen.

Pyramiden findet er interessanter als Fernsehen. Jede Zuspitzung ist ihm suspekt und das Misstrauen gegenüber Fremden erst recht. „Alle Sachsen sind Einwanderer. Erst kamen die Sorben, dann die Franken, die Flamen, die Niedersachsen. Und immer hat es Finsterlinge gegeben und immer vernünftige Leute. Gerade die Dresdner waren berühmt für ihre weltoffene Neugier: Gucken in jede Baugrube und wollen wissen, was drin passiert.“

Ein Gong schlägt, eine Kette rasselt, ein Kuckuck springt aus dem Haus. „Die Zeit vergeht schnell, wenn man alt wird“, sagt Matthias Griebel. Er sammelt Uhren. „Sie ticken so schön. Jede führt ein Eigenleben.“ Aber was sammelt er nicht? Aus der Spielzeugmenagerie von Krippenfiguren, Förstern, Jägern, Fuhrwerken sucht er jedes Jahr was anderes aus für die Wiesaer Pyramide. Eine Rarität aus dem 19. Jahrhundert. Die Achse rotiert auf Brillenglas. „Na ja, ein Schnellläufer ist es nicht.“

Die Adventszeit nennt der Sachse Matthias Griebel „unsere fünfte Jahreszeit“. Sie beginnt, wenn er die Männelmannschaft aus den Truhen holt. Jedes Mal muss er sich wundern. Hier fehlt die Nase, dort fällt ein Lämpchen aus. Was treiben die Herrschaften, wenn sie im Sommer unter sich sind? Griebel kriegt auch das heraus. Und immer wird es gleich ein Standardwerk.

Ohne ihn wüsste man viel weniger über die Künstler am Elbhang oder über Mutter Unger, die aus der Not eine Tugend machte. Ihr Mann, erzählt Griebel, war mit seiner Böttcherwerkstatt von Pirna nach Dresden gezogen und baute Fässer für die Winzer vom Hang. Weil sie statt Geld oft Wein dafür gaben, erwarb Frau Unger das Schankrecht und besserte das Haushaltsbudget auf, indem sie in ihrem Garten gläserweise Wein verkaufte. In der niedrigen Gaststube trafen sich die Maler der Kunstakademie. Das Haus steht hinterm Körnerplatz bei der Senfbüchse. So heißt der Rundbau, den Josef Herrmann für seinen Vater errichtete, weil dieser zwei Schiffer aus dem Elbeis gerettet hatte.

Und so geht es weiter, weil Matthias Griebel zu jedem Stein in der Gegend eine Geschichte kennt. „Der Blick nach vorn verlangt Rückbesinnung.“ Ein Foto von Mutter Unger hängt an der Wand. Zu ihren Gästen gehörten der Fotograf August Kotzsch und der Maler Ludwig Richter. Der eine holte den anderen vor die Kamera. Griebel zeigt es in seinem Kotzsch-Buch. Der Fotograf, heißt es immer, habe sein Handwerkszeug bei seinem Nachbarn August Niemann erworben. Griebel hat nachgeforscht und stellt fest: „Den gab es gar nicht. Aber einen Johann Niemann gab es.“

Wahrscheinlich geht es Matthias Griebel wie jedem Süchtigen: Wenn er erst mal anfängt, kann er schlecht aufhören. Sein Weg führt von den eigenen penibel sortierten Aktenordnern über Friedhofsverwaltungen zum Stadtarchiv oder zur Landesbibliothek, ganz traditionell. Umso erstaunlicher ist es, was auf der Erika-Schreibmaschine entsteht. Der prächtige Loschwitz-Band wiegt knapp viereinhalb Kilo.

Die nächste Generation, meint Griebel, werde so was nicht schreiben können. „Wenn eine Mauer ums Land steht, beschäftigt man sich mit dem Inneren umso intensiver. Jüngere genießen jetzt das Geschenk der Freiheit. Die Globalisierung macht die Welt groß, und was groß ist, ist erst mal gut. Aber der kleine Familienkreis bleibt umso wichtiger. Irgendwo muss man miteinander sein, und wenn es das Kaffeekränzchen im ,Toscana’ ist.“ Dort, sagt er, traf sich die Mutter mit ihren Freundinnen.

Wie seine Eltern hat Matthias Griebel seinen Stammtisch im „Körnergarten“. „Damit man erfährt, was unten im Dorf passiert.“ Die Familie hat er um sich, wenn er im Weihnachtsbuch des Vaters liest. Dann erinnert er sich auch an die ersten Weihnachtsausstellungen in der Dresdner Nordhalle, die inzwischen das Militärmuseum beherbergt. Schnitzer verkauften bescheidene Kunststücke. „Aber eine Auguste Müller ist mir nie über den Weg gelaufen“, sagt Griebel. „Dafür würde ich ein Vermögen bezahlen!“ Die Frau aus Seiffen schnitzte um 1900 aus Holzabfällen Figuren, die sie in realistischen Alltagsszenen zeigte. Die Auguste sei so arm gewesen, sagt Griebel, dass sie Haare abgeschnitten habe, um Pinsel daraus zu binden.

Kann sein, dass der Vater solche Geschichten bei den gemeinsamen Wanderungen erzählte: Otto Griebel, Dadaist und proletarisch-revolutionärer Maler. Sein berühmtes Gemälde „Die Internationale“ soll demnächst aus dem Deutschen Historischen Museum Berlin nach Dresden reisen. Die Galerie im Landhaus bereitet eine große Griebel-Schau vor. Sohn Matthias liefert Zuarbeiten fürs Werkverzeichnis. „Ich hab rundum zu tun, die Zeit läuft mir weg.“

Im Weihnachtsbuch liest er, wie der Vater in der Nachkriegszeit gestohlenes russisches Bonbonpapier zu Rauschgoldengeln verarbeitete. Bei einer misslungenen Weihnachtsfichte wurden die Äste unten abgesägt und oben in Bohrlöcher eingesetzt. Und nie wieder hat ein Kartoffelkuchen so geschmeckt wie der, der nach dem Stollenbacken noch warm mit Zucker und Zimt auf den Tisch kam. Ein „GR“, in Aluminiumdreiecke gehämmert, markierte das Stolleneigentum in der Backstube. Der Handwagen zum Transport war wie vieles andere geliehen. Die Familie war ausgebombt in der Nähe vom Fetscherplatz, wo es im Erdgeschoss eine Kneipe gab. Sie muss dringend erforscht werden. Die Dämmerstunde dauert selten eine Stunde lang.

Mit der Ausstellung kehrt Matthias Griebel an seinen Arbeitsort zurück. Zwölf Jahre lang hat er das Stadtmuseum geleitet. Der Matz kann das, hieß es 1990. Vorher hatte er als Haus- und Hofmeister im „Körnergarten“ gearbeitet. „Ich hab die Bude ausgemalt, Schnitzel breitgekloppt und Bier ausgeschenkt, was gerade so anfiel. Vom Biertresen geradewegs auf den Direktorsessel, so war das.“ Es ist dem Museum bekommen. Nicht nur die Weihnachtsausstellungen waren legendär. Griebel ließ sich immer was einfallen. Als er Fördermittel verwenden wollte, um viele künstliche Weihnachtsbäume ins Haus zu stellen, gab es Protest. „Wir haben sie als Ausstellungsträger für historischen Christbaumschmuck bezeichnet. Da ging’s.“

Solche Tricks lernt man auf krummbuckligen Lebenswegen. Weil Matthias Griebel seine Zukunft nicht in der DDR-Landwirtschaft sah, wechselte er in den Sechzigerjahren zum Kabarett. Er stand bei der „Herkuleskeule“ auf der Bühne und schrieb Texte für das Duo Gustav und Erich. In den Siebzigern arbeitete er tageweise als Lagerarbeiter bei Eisen-Richter in Bühlau, für den Stempel im Versicherungsausweis und das Lebensnotwendigste. Die meiste Zeit aber verwendete er fürs Studium, ohne eine Universität zu besuchen.

Sein nächstes Forschungsobjekt ist der Dresdner Schwarzmarkt zur Nachkriegszeit. Vielleicht, meint Matthias Griebel, hat die Mutter sein Weihnachtsbrot dort gekauft. Ein Vierpfünder soll 120 Mark gekostet haben. Polizeiakten könnten mehr wissen. Er wird es herausfinden.