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Was Helmut Kohl 25 000 Görlitzern versprach

Vor fast genau 25 Jahren hielt der Kanzler auf dem Görlitzer Obermarkt eine Wahlkampfrede. Was er sagte, ist aktueller denn je. SZ-Redakteur Tilo Berger war damals dabei.

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© Zimpel

Von Tilo Berger

Helmut Kohl spricht! Diese drei Worte genügten damals, um Menschenmassen in Bewegung zu setzen. So auch am 27. September 1990, einem sonnigen Donnerstag. An allen Zufahrtsstraßen nach Görlitz regelten Polizisten den Verkehr. In der Stadt strömte alles zum Obermarkt, wie der einstige Leninplatz jetzt wieder hieß.

Der Autor: Tilo Berger (54), geboren in Meißen, wohnt und arbeitet seit 1986 in der Oberlausitz. Er berichtete damals für Seite 1 der SZ von der Wahlkampfkundgebung mit Helmut Kohl.
Der Autor: Tilo Berger (54), geboren in Meißen, wohnt und arbeitet seit 1986 in der Oberlausitz. Er berichtete damals für Seite 1 der SZ von der Wahlkampfkundgebung mit Helmut Kohl. © Uwe Soeder

Schätzungsweise 25 000 Menschen drängten sich dicht an dicht, gezählt hat sie niemand. Mitten durch den Pulk hielten Gitter eine schmale Gasse frei. Durch diese sollte der Kanzler der Einheit auf seinem Weg zur Bühne schreiten. Helmut Kohl liebte stets das Bad in der Menge, er wollte Hände schütteln. So etwas kannten die Menschen in der Noch-DDR von ihren ehemaligen Regierenden nicht. Die hatten sich in ihren Limousinen immer bis direkt hinters Rednerpult chauffieren lassen.

Der Bundeskanzler machte an diesem Tag Wahlkampf für einen Mann, den er nicht mochte, was übrigens auf Gegenseitigkeit beruhte: Kurt Biedenkopf. Am 14. Oktober 1990 durften die Sachsen zum ersten Mal seit Menschengedenken einen Landtag wählen, und Biedenkopf war der Spitzenkandidat der CDU. Deren Sieg galt als sicher, fraglich war nur die Höhe. Die Christdemokraten hatten zuvor bereits die erste freie Wahl zur letzten DDR-Volkskammer am 18. März und die Kommunalwahlen am 6. Mai für sich entschieden. Die meisten der 25 000 Menschen waren wohl weniger wegen der bevorstehenden Wahlen als vielmehr wegen des Hauptredners auf den Görlitzer Obermarkt gekommen.

Hier herrschte Volksfeststimmung, die zu Jubel anschwoll, als vor dem Kaisertrutz Helmut Kohl aus dem Auto stieg und händeschüttelnd durch die Gasse schritt. Der Kanzler stutzte kurz – was bedeuteten die vielen gelb-weißen Fahnen? Aber als ihm jemand aus seinem Tross zuraunte, dies seien die Farben Niederschlesiens, wusste der erfahrene Wahlkämpfer, mit welchen Worten er seine Rede einleiten würde. Doch erst redeten andere, besser gesagt, sie riefen: „Helmut, Helmut“ – und einer: „Unser Retter kommt!“

Auch Biedenkopf redete

Wer immer den Retter-Spruch ausgestoßen hatte – mögen sich in den Jahren danach all seine Wünsche und Erwartungen erfüllt haben. Möge er vor allem seine Arbeit behalten oder, falls nicht, schnell eine andere gefunden haben. Denn fast niemand sprach bei solchen Kundgebungen davon, dass viele DDR-Betriebe entweder dem kommenden Konkurrenzdruck nicht standhalten oder aber als mögliche Konkurrenz ausgeschaltet werden würden. Niemand außer Kohl fand dafür Worte. Sachsens damaliger CDU-Landeschef Klaus Reichenbach, der als erster ans Rednerpult trat, visionierte stattdessen von einer Region Görlitz, die „in zwei bis drei Jahren“ wirtschaftlich wieder so stark wäre wie vor dem Zweiten Weltkrieg, ehe die DDR-Politik die Randlage bewusst vernachlässigte.

Kurt Biedenkopf versprach, die Region um Görlitz zu neuer wirtschaftlicher Blüte zu führen. „Stellen Sie sich vor, es gibt keine Umweltverschmutzung mehr. Und stellen Sie sich vor, Görlitz ist eine Stadt des Brückenschlags, liegt nicht mehr am Rand, sondern in der Mitte Europas. Stellen Sie sich vor, man kann auf der Straße fahren, ohne dass das Auto kaputtgeht.“ Damit hatte er Lacher und Beifall gleichermaßen auf seiner Seite. Den Namen Helmut Kohl erwähnte Biedenkopf nur dreimal – als er den Kanzler für seine Friedenspolitik lobte, die Anwesenden bat, „uns, der Christlichen Demokratischen Union, Helmut Kohl und mir Ihr Vertrauen zu geben“, und als er ihm das Mikrofon überließ.

Kohl sprach gleich in seiner Begrüßung mehrfach von Niederschlesien, womit die Kundgebung eigentlich ihr Ziel erreicht hatte. Das war das, was viele Menschen hören wollten. Aber natürlich sprach der Kanzler weiter, eine geschlagene Dreiviertelstunde, ohne Manuskript oder gar wörtlich ausgearbeitete Rede – auch das kannten die Ostdeutschen von Politikern nicht.

Der Retter sprach. Sprach da der Retter? Natürlich, in der damaligen Situation. Erinnern wir uns kurz an diese. 1989 schaffte sich die Unzufriedenheit vieler DDR-Bürger Gehör in Demonstrationen. Aber bei den ersten Demos in Leipzig, Zittau und anderswo ging es noch nicht um die deutsche Einheit, es ging um eine andere DDR. An der Frage, wie diese aussehen könnte, schieden sich die Geister. Würde sich die DDR überhaupt reformieren lassen, ging das mit diesen Strukturen in Politik und Wirtschaft?

Anfang 1990 gewann die Strömung die Oberhand, die sagte: Nein, das geht nicht, und wir wollen auch gar nicht mehr abwarten, ob irgendwelche Reformen klappen. „Keine Experimente“ wurde zu einer der zentralen Losungen im Wahlkampf zur Volkskammer. Viele sagten damals sinngemäß: Ich lebe jetzt – also will ich jetzt auch den Wohlstand, den die Menschen in der anderen deutschen Republik schon haben. Dieser Wohlstand verband sich mit der Währung, für die – sofern ausreichend vorhanden – sich weltweit alles kaufen ließ. „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr“ – längst hatten solche Forderungen das anfängliche „Wir sind das Volk“ abgelöst.

Diese Losungen wurden natürlich auch in der damaligen Bundesrepublik wahrgenommen, und nicht nur Helmut Kohl wusste, dass sie ernst gemeint waren. Es ging gar nicht mehr anders, als den Ostdeutschen die D-Mark zu geben, sonst wären wahrscheinlich ein paar Millionen Menschen durch die längst offenen Grenzen in den Westen gekommen. Und in Gebieten wie der Oberlausitz wären zu wenige geblieben, um hier etwas Neues aufzubauen. Insofern hat der damalige Kanzler, der mit seiner Regierung die Wirtschafts- und Währungsunion und die deutsche Einheit durchdrückte, auch die Oberlausitz gerettet. Dass in den Jahren darauf viele kreative und tüchtige Menschen der Arbeit nachzogen, hat die Region dann noch genug geschwächt.

Grüße an den Gegner

Es war nicht nur, aber vor allem der zutiefst menschliche Wunsch nach etwas Wohlstand, der die Menschen am 18. März, am 6. Juni und am 14. Oktober 1990 und viele weitere Male seitdem mehrheitlich CDU wählen ließ. Und es ist auch der Wunsch nach etwas Wohlstand, für den heute Hunderttausende Menschen gefährliche Bootsfahrten und Fußmärsche durch halb Europa auf sich nehmen. Im Vergleich zu ihnen hatten wir damals Glück, wir hatten Helmut Kohl und den Westen vor der Tür. Dieses Glück haben die Flüchtlinge heute nicht, sonst wären viele von ihnen gar nicht unterwegs.

Der Retter sprach also, und geschätzte 25 000 Menschen hörten staunend, dass der Kanzler ausdrücklich auch die politischen Gegner begrüßte. Die standen auch auf dem Obermarkt, mit Spruchbändern wie „Auf Wiedersehen im Bundestag, Herr Kohl – PDS“. „Mit der wiedergewonnenen Freiheit unseres Vaterlandes wollen wir auch die politische Kultur hochhalten, dass wir mit Argumenten um die Mehrheit kämpfen, mit unserer Überzeugung, und darüber will ich heute Abend mit Ihnen sprechen.“ Er sprach von der Chance für ein „gemeinsames Vaterland, für den Frieden, für die Freiheit, für soziale Gerechtigkeit, und gemeinsam mit unseren Nachbarn den Beitrag für eine bessere Welt zu leisten“. Dass dies möglich sei, wollte Kohl nicht als Verdienst der Deutschen allein sehen. Er dankte den „Freunden im Westen, allen voran den Amerikanern, den Franzosen und den Briten“, dass diese 40 Jahre lang die Bundesrepublik unterstützt hätten. Unter großem Beifall dankte Kohl auch dem damaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, dessen Politik das Ende des Kalten Krieges ermöglicht habe. Kohl konnte nicht wissen, dass sich sein Wunsch nach guten Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion schon wenig später erledigt haben würde – mangels Sowjetunion.

In seinem außenpolitischen Rundumschlag würdigte der Redner die Reformbewegungen in Mittel- und Osteuropa, und er sagte wörtlich: „Wir, die Deutschen, werden nie vergessen, dass gerade vor einem Jahr die ungarische Regierung den Mut hatte, für viele Zehntausende junge Leute vor allem aus der DDR die Grenze nach Österreich zu öffnen.“

Das konnte Kohl in jeder (ost-)deutschen Stadt genau so sagen, aber er war in Görlitz, und da richtete er das Wort an die polnischen Nachbarn – nicht, ohne vorher die Solidarnosc-Bewegung gelobt zu haben: „Wir wünschen uns von Herzen, dass wir und die Polen gute und freundschaftliche nachbarschaftliche Beziehungen haben werden. Ich wünsche mir, dass an dieser Grenze das Mögliche, das in meiner Heimat, in der Pfalz, in den letzten Jahrzehnten möglich war, an der deutsch-französischen Grenze, dass von einer deutsch-französischen Erzfeindschaft, die ich noch in meinen Schulbüchern erlebt habe, keine Spur mehr vorhanden ist. Dass unsere Kinder diesseits und jenseits der Grenze hin und her fahren und nicht das Gefühl haben, sie seien in Deutschland oder Frankreich, sondern sie seien mitten in Europa. Wir wollen, dass diese Grenze nicht mehr trennt, sondern dass sie Brücke werden kann. Wir wollen, dass diese Grenze niemals eine Wohlstandsgrenze wird.“

Dieser Wunsch hat sich nicht erfüllt, anderes schon. 25 Jahre später ist es ganz normal, dass deutsche Kinder in polnische Kindergärten gehen – und umgekehrt. An Görlitzer Schulen lernen Erstklässler Polnisch, und am östlichen Neiße-Ufer sagt der Polizist in fließendem Deutsch: „Hier bitte nicht parken. Da drüben bitte.“

Kohl streichelte das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, indem er ihnen von Görlitz aus für Friedensgebete und Demonstrationen dankte, die mit dafür sorgten, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt ein Volk friedlich wiedervereinigen konnte. Im Westen hätten die Wähler von CDU und CSU den Gedanken der Einheit nie aufgegeben. Mit der Öffnung der Grenzen zu den östlichen Nachbarn wachse Europa zusammen. Der „alte Kontinent“ sei wieder da, sagte Kohl unter Beifall. „Der Untergang des Abendlandes findet nur noch in den Bibliotheken und in Büchern statt.“

Mit der Wiedervereinigung wachse auch die Verantwortung Deutschlands. „Die moralische Kraft deutscher Politik hängt auch davon ab, ob wir zu internationaler Solidarität fähig sind.“

„Ich sage das ganz deutlich“ – mit diesem Satz eröffnete Kohl viele seiner Gedanken zur Lage in Deutschland selbst. Das Land habe die Chance, „alle Probleme, die niemand leugnen kann, auch zu schaffen“. Dazu müssten die Ärmel hochgekrempelt und hart gearbeitet werden. Was in den Jahren darauf viele gern getan hätten.

Kohl erinnerte daran, dass Sachsen einst die Wiege der Industrialisierung in Deutschland war. „Und was ihre Urgroßväter leisteten, das können die Sachsen von heute genauso leisten! Darüber kann es gar keine Zweifel geben.“ Der Osten Deutschlands habe nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die gleichen Chancen gehabt wie der Westen, wo dank des Marshallplanes aus den USA viel Geld ins Land floss. „Jetzt frage ich Sie“, und er gab die Antwort gleich mit: „Hätten Sie die gleichen Chancen in diesen 40 Jahren gehabt, hätten Sie hier, in Görlitz, die gleichen Ergebnisse erzielt wie in Ludwigshafen. Es lag am System, das die Menschen 40 Jahre lang um die Früchte ihrer Arbeit betrogen hat.“

Kein Wort von blühenden Landschaften

Seit der Volkskammerwahl im März habe es in der DDR mehr als 60 000 neue Gewerbeanmeldungen gegeben, wusste Kohl. Daraus werde ein neuer Mittelstand erwachsen. Es würden auch Unternehmen auf der Strecke bleiben, aber die Mehrzahl der Firmen werde für neue Wirtschaftskraft sorgen, gab sich der Kanzler überzeugt. „Wir brauchen junge Leute, die sagen, ich riskiere etwas, auch wenn ich keine 40- oder 50-Stunden-Arbeitswoche habe, aber ich will mit meiner Frau einen eigenen Handwerksbetrieb auf die Beine stellen.“ Damit lief Kohl offene Türen ein. Wer jetzt, ein Vierteljahrhundert später, mit offenen Augen durch die Oberlausitz geht, dem dürften in den vergangenen Monaten die vielen 25-Jahr-Schilder an Firmentüren aufgefallen sein.

Der Kanzler machte kein Hehl daraus, und darin unterschied er sich von den anderen Rednern, dass die bevorstehende Umstrukturierung der Wirtschaft zwar Arbeitsplätze schaffen, aber auch viele kosten werde. Dass es Arbeitslose geben werde, denen bei der Umschulung geholfen werden müsse. „Das ist alles nichts Neues. Nach der Währungsreform 1948 war es drüben, in der jetzigen Bundesrepublik, ganz genau so. Wir mussten damals anpacken, viele mussten etwas Neues lernen, aber was daraus entstanden ist, haben viele von Ihnen inzwischen kennengelernt.“ Es sei nicht das Verdienst der Westdeutschen, auf der Sonnenseite geboren worden zu sein. Deshalb erachte er es als selbstverständlichen Akt der Brüderlichkeit und der Solidarität, jetzt den Landsleuten im Osten zu helfen.

Besonders angebracht sei diese Solidarität gegenüber der älteren Generation, sagte Kohl in Richtung vieler nickender Senioren. Er sprach von zwei Männern, die zusammen im Krieg waren, danach aber unterschiedliche Wege gingen. Der eine lebte in Frankfurt am Main, der andere in Frankfurt an der Oder. „Wenn sie heute ihre Rente vergleichen, sehen sie den Unterschied. Und aus diesem Unterschied ergibt sich für mich die solidarische Pflicht aller Deutschen, gerade auch für die ältere Generation hier in der DDR einzutreten. Und ich sage das ganz deutlich.“

Mit ein paar Wortsalven gegen die Sozialdemokraten und „den Herrn aus dem Saarland“ – damit meinte er Oskar Lafontaine – kam Kohl zum Schluss. Die Formulierung von den blühenden Landschaften, die ihm immer wieder in den Mund gelegt wird, verwendete er in Görlitz kein einziges Mal. Nach tosendem Beifall und unter den Klängen des Deutschlandliedes wandte sich der Redner noch einmal der Menschenmenge zu, schüttelte Hände und genoss die „Helmut, Helmut“-Rufe. Wenige Tage später feierte Deutschland am 3. Oktober seine Wiedervereinigung. Am 14. Oktober 1990 gewann die CDU mit absoluter Mehrheit die Landtagswahl in Sachsen, Kurt Biedenkopf wurde Ministerpräsident. Die Wahlbeteiligung lag damals bei rund 75 Prozent.

Helmut Kohl kam später noch zweimal nach Görlitz, aber 25 000 hörten ihm hier nie wieder zu.