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Unbezahlte Tschernobyl-Rechnung

Die Ukraine will eine Mauer zu Russland bauen - fast in Vergessenheit gerät die Notwendigkeit eines anderen Bauwerks. Der Atomreaktor in Tschernobyl braucht dringend eine neue Schutzhülle.

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Von Georg Ismar

Berlin. Drei Tage herrschte Rätselraten. Im finnischen Tampere wurde eine sechsfache Erhöhung der üblichen Strahlungsmenge gemessen. Am 29. April um 16.08 Uhr ging dann eine Eil-Meldung über die Ticker: „Der Reaktorkern in dem sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl bei Kiew ist nach bisherigen in Bonn vorliegenden Erkenntnissen aus noch ungeklärter Ursache durchgeschmolzen. Ein solches Unglück wird in der nuklearen Sicherheitsterminologie als ein Super-Gau bezeichnet.“

Gut ein Vierteljahrhundert nach dem Super-Gau in Tschernobyl entsteht in der „Todeszone“ eine neue Schutzhülle für den havarierten Reaktor.
Gut ein Vierteljahrhundert nach dem Super-Gau in Tschernobyl entsteht in der „Todeszone“ eine neue Schutzhülle für den havarierten Reaktor. © dpa

1986 war das, über 28 Jahre ist das her. Auf mehr als 180 Milliarden US-Dollar schätzen Experten den Gesamtschaden. Über die Toten gehen die Meinungen weit auseinander. Insgesamt könnte es durch die Strahlung am Ende bis zu 4.000 Opfer geben, meint die Internationale Atomenergiebehörde, andere Schätzungen gehen von bis zu 100.000 aus.

Fast dreimal so groß wie der Petersdom

Und erledigt ist die Katastrophe noch lange nicht. Aber in der Krise mit Russland hat die Ukraine gerade jede Menge andere Probleme. Die Regierung will nun sogar eine Mauer zu Russland bauen. Berlin dürfte schon aus historischen Gründen für das Projekt kein Geld geben. Der Bundesregierung als Inhaber der G7-Präsidentschaft kommt aber bei einem anderen Bauwerk eine Schlüsselrolle zu: dem sogenannten sicheren Einschluss des Katastrophenreaktors in Tschernobyl.

Denn es fehlen nach Angaben aus Regierungskreisen 615 Millionen Euro. Ohne frisches Geld muss der Bau einer dringend notwendigen Schutzanlage über den havarierten Block 4 abgebrochen werden. Die Osthälfte ist schon errichtet, die zweite Hälfte ist im Bau. Die gigantische Stahlhülle soll den maroden Reaktor überwölben, damit keine weitere hoch radioaktive Strahlung nach außen dringt. Denn der notdürftig errichtete Betonschutz ist brüchig und reicht bei weitem nicht. Mit einer Fläche von 42.000 Quadratmetern wäre das Bauwerk fast dreimal so groß wie der Petersdom. Es soll über 100 Meter hoch und 165 Meter lang werden.

Beim G7-Gipfel Anfang Juni in Brüssel wurde in der Abschlusserklärung auch von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gemahnt: „Uns ist bewusst, wie komplex diese neuartigen Projekte sind, und wir appellieren an alle beteiligten Parteien, eine zusätzliche Anstrengung zu unternehmen, um sie zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen.“ Schon 1997 hatten die G7-Staaten der Ukraine Unterstützung beim Bau des Sarkophags zugesagt, es wurde der „Chernobyl Shelter Fund“ (CSF) eingerichtet. Deutschland hat bisher über 80 Millionen Euro in den Fond eingezahlt.

Skandalöses Gefeilsche?

Aber die Zeit drängt, das zusätzliche Geld für die dicke Haube fehlt. Das Bundesfinanzministerium betont: „Im Bundeshaushalt 2014 und im Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2015 sind hierfür jeweils 7,65 Millionen Euro vorgesehen.“ Aber das ist längst nicht genug, wie eingeräumt wird. Das zuständige Bundesumweltministerium muss Minister Wolfgang Schäuble (CDU) noch Dutzende weitere Millionen abtrotzen.

„Die Fertigstellung der neuen Schutzhülle für den Sarkophag ist unabdingbar, um den havarierten Reaktor sicher zu umschließen und seinen Abbau zu ermöglichen“, mahnt Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD). Mit der Projektabwicklung beauftragt ist die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), sie pocht auf weitere Finanzzusagen. Mitte Oktober soll bei einer Sitzung der G7-Gruppe für Nuklearsicherheit der Knoten eigentlich durchschlagen werden. Während die USA, Deutschland, Kanada, Italien und die EU-Kommission wohl mehr Geld geben wollen, halten sich Japan, Frankreich und Großbritannien bedeckt. Ziel der Bundesregierung ist es, dass dann konkrete Beiträge von allen G7-Staaten genannt werden.

Für die Umweltschützer von Greenpeace ist das Gefeilsche skandalös. „Ich finde das unverantwortlich“, sagt Atomexperte Tobias Münchmeyer. Aber auch wenn das Geld fließen und der Bau der Schutzhülle vollendet werden sollte, sei das längst nicht das Ende. „Es ist eine Illusion zu glauben, dass dadurch das Tschernobyl-Problem erledigt ist.“ (dpa)