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„Um Gottes willen, rote Halstücher!“

249 Kinder und Jugendliche aus Schleswig-Holstein erkunden zurzeit die Gegend rund um Radeburg. Sie fallen sofort auf.

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© Anne Hübschmann

Von Jörg Richter

Rödern/Bärnsdorf. Was ist denn in der Bärnsdorfer Kirche los? Diese Frage stellt sich wohl jeder, der an diesem Mittwochvormittag dort vorbeikommt. Jungen und Mädchen gehen durch die Sakristeitür ein und aus. Auf dem Pfarrhof versammeln sie sich zum Frühstück, denn sie haben die letzte Nacht in der Kirche geschlafen und sind hungrig. Es gibt belegte Brötchen und Milch.

Ein Mitarbeiter mit rotem Halstuch hilft einem Wölfling beim Zusammenpacken.
Ein Mitarbeiter mit rotem Halstuch hilft einem Wölfling beim Zusammenpacken. © Anne Hübschmann

Alle sehen irgendwie gleich aus. Sie tragen alle mintgrüne Hemden und Halstücher. Die Kleineren haben gelbe Tücher, die Großen rote. – Rote Halstücher! Um Gottes willen! Warum ausgerechnet rote Halstücher?

„Wir sind hier schon mehrmals darauf angesprochen worden“, erzählt Arne Oehme. Der 17-jährige Riese – er ist sagenhafte 2,08 Meter groß – gehört zu den evangelischen Pfadfindern aus Schleswig-Holstein, die seit dieser Woche im zehn Kilometer entfernten Rödern ihre Zelte aufgeschlagen haben. Die Übernachtung in der Bärnsdorfer Kirche gehört zum Programm, um die Gegend wandernd zu erkunden.

Erinnerungen werden wach

Arne trägt selbst ein rotes Halstuch. Die Farbe symbolisiert, dass er ein Betreuer ist, der sich um die „Wölflinge“ kümmert. So werden nämlich die jüngsten Pfadfinder, die sieben bis elf Jahre sind, genannt.

Dass die roten Halstücher im Osten Deutschlands ganz unterschiedliche Erinnerungen wachrufen, hat er erst hier erfahren. Einige, denen sie auf ihrer Wanderung von Rödern nach Radeburg und später bei der Bahnfahrt im „Lößnitzdackel“ begegneten, lächeln verschmitzt. Andere schütteln ungläubig den Kopf. „Das ist schon eine schwierige Sache“, sagt der 17-Jährige, der die DDR nur aus Geschichtsbüchern kennt.

Oliver Harder, der Leiter des Pfadfinderlagers in Rödern, kennt den historischen Hintergrund, warum Uniformen und Halstücher hierzulande mit Argusaugen betrachtet werden. In der DDR trugen die Jungpioniere blaue Halstücher. Später kamen die Thälmann-Pioniere mit ihren roten Halstüchern dazu. „Deshalb haben die sächsischen Pfadfinder diese beiden Farben von vornherein abgelehnt“, erzählt Harder, der mit einigen sächsischen Pfadfinderleitern gut befreundet ist.

Das kommt nicht von ungefähr. Genauso wenig, dass die rund 250 Pfadfinder aus Schleswig-Holstein in Rödern campieren. „Denn ich bin ein echter Moritzburger Diakon“, sagt Harder stolz. Er studierte von 1997 bis 2001 im Moritzburger Diakonenhaus. Dem gehört das Gelände in Rödern, wo die Pfadfinder ihr Hauptlager errichtet haben. Im Dorf ist das Areal nur als ehemaliger Jugendwerkhof bekannt.

Ein trauriger Ort, an dem zu DDR-Zeiten aus unangepassten Jugendlichen „ordentliche Staatsbürger“ geformt werden sollten. Dass jetzt ausgerechnet dort Uniformen, Halstücher und rund 40 schwarze Zelte zu sehen sind, hat in Rödern schon für Gesprächsstoff gesorgt. Deshalb ist Harder noch am Ankunftsabend in die Dorfgaststätte gegangen und hat sich dort den anwesenden Gästen vorgestellt. „Das fand ich nicht schlecht“, sagt Rainer Rentzsch aus Rödern. Jetzt wisse er, dass sie irgendwas mit Kirche zu tun haben und Kindern ein Ferienabenteuer bieten.

Von Sachsen begeistert

Und tatsächlich wird in dem Pfadfinderlager gebetet und Andachten gehalten, aber auch gespielt, gebastelt, gewandert und sogar Theater gespielt. Alles unter dem Thema „Robin Hood – unter Zöllnern und Räubern“. „Außerdem werden wir aus der eigenen Lagerküche versorgt“, so Harder. „Da muss jeder einmal mit anpacken.“

Der 43-Jährige ist begeistert, dass es in Sachsen fast in jedem Dorf eine Kirche gibt. Das sei in Schleswig-Holstein nicht der Fall. Deshalb kam er auf die Idee, für die ersten beiden Lagertage eine Kirchenwanderung zu organisieren. In mehreren Gruppen waren die Pfadfinder unterwegs, so auch in Ebersbach und Naunhof.

Bis zum 4. August werden sie hoffentlich viele schöne und erlebnisreiche Tage in Sachsen erleben und die Tugenden der Pfadfinder wie Hilfsbereitschaft, Kameradschaft und Liebe zur Natur hochhalten. Harder sagt: „Unser Auftrag ist es, jeden Ort, den wir verlassen, ein klein wenig verbessert zu haben.“ – Vielleicht haben es die Pfadfinder aus Schleswig-Holstein, ohne dass sie es ahnen, schon gemacht. Die Fröhlichkeit ist an die Auenwiesen an der Röder zurückgekehrt.