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Tropfsteinhöhle entpuppt sich als alte Brücke

Bauarbeiter finden im Mai ein unterirdisches Gewölbe, in dem Tropfsteine wachsen. Der Fund hält Großenhain tagelang in Atem.

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© Kristin Richter

Von Jörg Richter

Großenhain. Eine Tropfsteinhöhle mitten in der Stadt? Wer hätte gedacht, dass es sowas hier gibt? Bauarbeiter der Mühlbacher Firma Tieku entdeckten Anfang Mai bei Schachtarbeiten an der Kreuzung Meißner Straße/Mozartallee eine Art Mauerwerk. Es querte den Graben. Mehrere Tage war unklar, was es ist. Erst als die Bauarbeiter ein Loch in die Bruchsteinformation schlugen und hineinkletterten, realisierten sie, dass sie auf ein unterirdisches Gewölbe gestoßen waren. Sofort fiel ihnen ein verrosteter Stahlträger auf. Doch als sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wurden sie einer kleinen Sensation gewahr. Hier unten wuchsen tatsächlich Stalaktiten. Wie dünne Stricke hingen sie von der Gewölbedecke herunter. Unten auf dem Boden wuchsen ihnen dicke Stalagmiten entgegen. Sie sahen aus wie Spargelstangen, die vergessen wurden, zu ernten. Ein faszinierender Anblick. Damit hatten die Bauleute nicht gerechnet.

Später wurde das Gewölbe mit flüssigem Beton verfüllt. Die Verkehrssicherheit auf der darüber befindlichen Kreuzung hatte oberste Priorität.
Später wurde das Gewölbe mit flüssigem Beton verfüllt. Die Verkehrssicherheit auf der darüber befindlichen Kreuzung hatte oberste Priorität. © Kristin Richter

Und auch nicht der zuständige Wassermeister Konrad Zscheile von der Wasserversorgung Riesa-Großenhain (WRG), die die Schachtarbeiten in Auftrag gegeben hatte, um eine neue Trinkwasserleitung verlegen zu lassen. Er vermutet, dass es sich bei dem Gewölbe um einen unterirdischen Gang zum ehemaligen Kloster handelt. „Das Gewölbe war schon zu DDR-Zeiten bekannt“, erzählt er. „Allerdings waren damals noch keine Tropfsteine zu sehen. Die müssen noch relativ jung sein.“ Damals wie auch bei einem späteren Kanalbau seien Bauarbeiter bereits auf das Gewölbe gestoßen, hätten es allerdings nur provisorisch wieder verschlossen. Geröllmassen und typische Hohlblocksteine aus der Vorwende-Ära, die die Tieku-Mitarbeiter entdeckten, zeugen davon.

Die „Tropfsteinhöhle“ unter der Mozartallee brachte den Bauablauf gehörig durcheinander. Die Tiefbaufirma geriet mehr als zwei Wochen in Zeitverzug. Und das auf einer sonst viel befahrenen Bundesstraße. Die vollständige Freigabe für den Straßenverkehr verzögerte sich. Ein Statiker musste ran und Vorschläge machen, wie man dieses historische Gewölbe erhalten kann. Am Ende wurde entschieden, den unterirdischen Hohlraum komplett mit flüssigem Beton zu verfüllen.

„Es ging um die Sicherheit für den Straßenverkehr. Nicht, dass irgendwann einmal das Gewölbe einbricht und ein Bus oder ein Lkw drin liegt“, sagt Zscheile. „Das war mir nicht geheuer.“

Und auch Dr. Christoph Heiermann vom Landesamt für Archäologie verteidigt die Entscheidung, das zweifellos aus dem Mittelalter stammende Gewölbe zuzubetonieren. „Das Vorgehen ist nicht unüblich“, so der Experte. Die Verfüllung mit dem Beton-Wasser-Gemisch sei bei Bedarf reversibel. „Der Erhalt für die kommenden Generationen ist unsere Priorität“, sagt Heiermann. „Der Befund wurde nicht zerstört, sondern gesichert, und befindet sich noch am Ort. Von daher sind wir schmerzfrei.“ Mittlerweile haben die Archäologen das Gewölbe baugeschichtlich auch zuordnen können. Heiermann: „Es handelt sich um einen Bogen der Brücke über den Stadtgraben vor dem Meißner Tor und ist somit ein wichtiges erhaltenes Relikt der lokalen Historie.“

Die Kosten für den Mehraufwand, den die Tieku Mühlbach wegen der unerwarteten Entdeckung hatte, habe die WRG komplett übernommen, bestätigt Zscheile. Dazu zählen auch Schalungsarbeiten vor der Verfüllung des Gewölbes. Denn die Bauarbeiter fanden darin auch ein Loch in einer Kellerwand. Diese gehört zum ehemaligen Hotel „Sachsenhof“, das 1999 ausbrannte und später abgerissen wurde. Große Teile des Kellers blieben erhalten. Hätten die Tieku-Mitarbeiter das Loch in der Wand gelassen, dann wäre der Beton in den Sachsenhof-Keller geflossen. So aber reichten wenige Betonmischfahrzeuge aus, den historischen Brückenbogen für die Nachwelt zu erhalten. Dieses Glück blieb den Stalaktiten und Stalagmiten nicht vergönnt. Sie leben nur in Fotos und der Erinnerung fort.