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Tod durch Polizeikugeln

Im Notfall muss die Polizei schießen. Doch oft sind die Opfer psychisch Kranke, die mit psychologischer Hilfe statt Waffengewalt vielleicht noch leben würden.

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© dpa

Von Haiko Prengel

Berlin. Der nackte Mann steht unter Drogen, als er in den Neptunbrunnen am Berliner Alexanderplatz steigt. Er fuchtelt mit einem Messer herum und verletzt sich selbst. Polizisten umringen den Mann, der sich als „Messias“ ausgibt. Ein Polizist steigt ins Wasser, wohl um ihm zu helfen. Der verwirrte Mann geht auf ihn zu, bedroht ihn. Der Polizist weicht zurück, schießt dem nackten Mann in die Brust. In wenigen Sekunden ist die Situation eskaliert. Der Schwerverletzte stirbt kurz darauf.

Augenzeugen filmten den Einsatz im Juni 2013, rasch verbreitete sich das Video im Internet. „Hinrichtung“, meinten manche, andere erkannten Selbstverteidigung. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein: Der Polizist habe aus Notwehr geschossen.

Der Fall ist nicht der einzige Polizeieinsatz mit tödlichem Ende: In Hürth bei Köln bedroht und verletzt ein Mann seine Frau mit einer Machete. Er wird von Polizisten erschossen. In Stuttgart schießt ein 36-Jähriger mit Platzpatronen in die Luft und stirbt durch Polizeikugeln. Im bayerischen Merching ruft ein 34-Jähriger die Polizei, greift sie mit einer Schreckschusspistole an und wird erschossen.

Nach Daten der Innenministerkonferenz wurden von 2009 bis 2013 zwischen 32 und 36 Menschen bei Polizeieinsätzen getötet. Die Zahlen schwanken, weil die Innenministerien unterschiedliche Angaben machten. Der IMK-Vorsitz wechselt turnusmäßig zwischen den Ländern.

Zwei Drittel der Getöteten keine Kriminellen

Nur wenige der getöteten Menschen waren Schwerkriminelle, wie Recherchen des Senders RBB ergaben. Rund zwei Drittel waren geistig verwirrt oder lebensmüde. Der Rechtsanwalt Hubert Dreyling vertritt die Angehörigen des Mannes aus dem Neptunbrunnen. Der Polizeieinsatz sei „völlig unverhältnismäßig“ gewesen, sagt er. Die Beamten hätten psychiatrische Hilfe holen müssen, anstatt ihre Pistolen zu ziehen.

Die Berliner Polizei weist die Vorwürfe zurück. Durch einen Ausfallschritt nach vorne hätte der Angreifer den Polizisten im Brunnen schnell erreichen und mit dem langen Messer lebensgefährlich verletzen können, sagt ein Sprecher.

Anwalt Dreyling untersucht einen weiteren Berliner Fall: Ein 50-Jähriger war im Oktober 2012 mit einer Axt und einem Messer durch den Stadtteil Wedding gelaufen. Kurz hintereinander waren sein Vater und sein Sohn gestorben, das warf den Maler wohl aus der Bahn. Polizisten stoppten ihn mit zehn Schüssen, sechs Kugeln trafen Bauch und Beine. Weil der Mann sein Messer nicht losließ, folgten Tritte und Schlagstockhiebe, Pfefferspray wurde versprüht, ein Hund auf den 50-Jährigen gehetzt. Nach 14 Tagen im Koma starb der Mann. Die Staatsanwaltschaft ermittelte anderthalb Jahre und entschied: Notwehr.

Defizite bei der Polizeiausbildung

Experten beklagen Defizite bei der Polizeiausbildung, was den Umgang mit psychisch kranken Menschen angeht. Beim Einsatz in Wedding sei „so ziemlich alles falsch gemacht worden, was man falsch machen kann“, sagt der Jurist und Kriminalwissenschaftler Thomas Feltes. Die Polizisten hätten unnötig Gewalt angewendet, einige von ihnen müssten verurteilt werden. Auch das Vorgehen am Neptunbrunnen sei problematisch gewesen.

Tatsächlich hätten es Polizisten immer häufiger mit psychisch kranken Menschen zu tun, sagte Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) dem RBB. Generell mehr Aus- und Fortbildungen in diesem Bereich halte er aber für „nicht zielführend“. Rechtsanwalt Dreyling hat gegen den Ermittlungsstopp im Weddinger Fall Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft eingelegt. Bei dem Mann am Neptunbrunnen wurde seine Beschwerde abgewiesen. Der Fall liegt nun beim Bundesverfassungsgericht. (dpa)