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Tanne im Tiefflug

Der Weihnachtsbaum auf dem Untermarkt in Görlitz steht. Das Fällen sorgte derweil auch für wehmütige Erinnerungen.

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© Nikolai Schmidt

Von Matthias Klaus

Der ältere Herr streicht ein letztes Mal vorsichtig über die grünen Nadeln. „Mach’s gut Bäumel“, sagt er leise. Ein bisschen wehmütig schaut er auf die 13-Meter-Tanne, die gerade auf einem Sattelschlepper für den Abtransport verzurrt wird. Ja, er sei traurig. „Aber irgendwann muss man eben Abschied nehmen, ob von Bäumen oder von Menschen.“ Werner Stahr, Jahrgang 1939, heißt der Mann, der so am Montagvormittag halb zehn auf dem Fußweg an der Paul-Taubadel-Straße in Rauschwalde philosophiert. Hier wurde gerade der Baum für den Christkindelmarkt auf dem Untermarkt gefällt. Und Werner Stahr hatte ihn nach Görlitz gebracht.

Auf dem Untermarkt hält eine Stahlhülse mit Betonfundament den Baum fest.
Auf dem Untermarkt hält eine Stahlhülse mit Betonfundament den Baum fest. © Nikolai Schmidt
Andreas Täubel vom städtischen Betriebshof setzt die Säge an.
Andreas Täubel vom städtischen Betriebshof setzt die Säge an. © Nikolai Schmidt

In welchem Jahr das genau war, dass weiß er allerdings nicht mehr so aus dem Hut. „Da müsste ich in meinem FDGB-Buch nachsehen“, schmunzelt Werner Stahr. Aber es war in der Zeit der Veränderung, vor 26 oder 27 Jahren. „Damals waren wir im Urlaub in Thüringen“, erzählt er. Während einer geführten Wanderung mit einem Förster habe eine Frau aus der Urlaubertruppe gefragt, ob sie ein Bäumchen mitnehmen darf. Sie durfte, und Werner Stahr durfte auch. Nicht nur ein kleines Bäumchen brachte er am Ende in seiner Aktentasche mit nach Görlitz, sondern sogar drei. Es waren besondere Bäume, Weißtannen. Alle drei wuchsen an der Paul-Taubadel-Straße, zwei wurden bereits gefällt, am Montag der letzte des Trios.

Eine Stunde, bevor Werner Stahr sich von seinem Sprössling verabschiedet, haben Michael Wendler und Andreas Täubel Stress. Herr Wendler sitzt in mehreren Metern Höhe mitten im Geäst der Weißtanne und Herr Täubel wartet unten, bis sein Kollege endlich die Kette um den Stamm gelegt hat und er die Motorsäge anwerfen kann. Die beiden Männer vom städtischen Betriebshof sind ein eingespieltes Team. Mit ihrer Hilfe gingen in der Vergangenheit schon mehrere Bäume in die Luft und auf die Reise zum Untermarkt. Die Fäll-Aktion an der Paul-Taubadel-Straße hat es allerdings in sich. Der große Kran der Firma Felbermayr steht auf der Straße, zwischen ihm und dem Baum im Garten steht ein Mehrfamilienhaus. Also Ausleger ausgefahren und dann über das Dach gelenkt. „Achtung Micha, Kette kommt“, sagt Andreas Täubel und aus dem Tannengrün dringt ein Gedämpftes „Ich seh gar nüscht“ als Antwort. Aber der erfahrene Baumsteiger Wendler hat kurz darauf die Kette im Griff, hängt das Nadelgehölz an und steht ein paar Minuten später auf festem Boden. Andreas Täubel gibt mit der Motorsäge Gas.

Der diesjährige Weihnachtsbaum wird vom Grundstückseigentümer, der Firma Spaltholz Schulz, zur Verfügung gestellt. Entdeckt hat ihn allerdings Tino Wallor. Er ist so etwas wie der Baumbeauftragte der Görlitzer Kulturservicegesellschaft. Auch wenn es das Jahr über Angebote für Bäume gebe, er gehe gern selbst auf die Pirsch, in der Freizeit natürlich. „Mehr oder weniger zufällig habe ich dabei die Tanne an der Paul-Taubadel-Straße entdeckt“, erzählt Tino Wallor. Er nahm Kontakt zum Grundstückseigentümer auf, der sagte ja. Die Anwohner des Hauses sehen die Fällaktion dabei eher mit gemischten Gefühlen. Vor allem auch, weil die Weißtanne vielen Vögeln gerade im Winter ein Zuhause geboten hat. Zu spät. Es ist 8.42 Uhr, Andreas Täubel hat die Säge ausgeschaltet, die Tanne hängt an der Kette. Ganz langsam gewinnt sie an Höhe, wird vom Kran halb über das Dach und halb zwischen zwei Häuserblocks manövriert. Der Kranfahrer misst 2,3 Tonnen Gewicht am Haken. „Ich hoffe, die haben eine gute Versicherung“, unkt ein Anwohner. Die braucht es nicht, alles geht glatt. Tino Wallor ist mit dem Baum mehr als zufrieden. „Ein sehr schönes Exemplar. Genau die Größe, die ich mir vorgestellt habe“, freut er sich. Der Transport mit der Partnertrans-Schlesien zögert sich noch etwas hinaus, die großen Äste müssen mit Spanngurten gesichert werden. Das ist zeit- und kraftaufwendig. Mit Polizeibegleitung geht es schließlich über die Umgehungsstraße, die Abfahrt Flugplatz, Heilige-Grab-Straße, Obermarkt und Brüderstraße zum Untermarkt. Noch vor zwölf Uhr mittags steht hier der Baum.

Werner Stahr hat derweil auf der Paul- Taubadel-Straße gesammelt, Samen, die die Zapfen verloren haben. Eine Handvoll zeigt er. „Ich versuche, einen neuen Baum zu ziehen, im Topf auf dem Fensterbrett“, sagt er. „Vielleicht klappt es ja.“