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Tabuthema Depression

Eine Kamenzerin kämpft seit Jahren gegen ihre psychische Krankheit. Darüber schweigen will sie nicht mehr.

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© René Plaul

Von Ina Förster

Jeder Fünfte erkrankt einmal im Leben daran, sagt die Statistik. Und doch ist das Thema Depression immer noch so verwaschen, so uneindeutig wie seit Jahren. Jeder weiß, dass es sie gibt. Nichtbetroffene können allerdings nur erahnen, was die Krankheit wirklich bedeutet.

Auch Kerstin Schäfer aus Kamenz hat sich früher in ihr Schneckenhaus verkrochen. Hat höchstens mit ihren engsten Angehörigen gesprochen. Später mit ihrer Psychologin. Freundschaften sind darüber zerbrochen. Die Ehe musste mehr als einmal gekittet werden. Schiefe Blicke und Tuscheln hinter vorgehaltener Hand sei sie mittlerweile gewohnt. „Ganz viele Leute wissen nicht, wie sie mit mir und meinen Gefühlsschwankungen umgehen sollen. Ich weiß es ja ganz oft selber nicht“, sagt sie leise. An guten Tagen wie heute, wenn draußen die Frühlingssonne scheint, da schöpft sie Kraft. Die 47-Jährige hat sich auf den Weg in den Garten gemacht. Sie will schauen, was schon blüht. Es sind knapp anderthalb Kilometer bis dahin. Ein nicht mal halbstündiger Spaziergang. Aber für Kerstin ist das eine Wochenaufgabe – allein die Planung steht seit Tagen. Sie wundert sich, dass sie sich letztendlich überhaupt aufraffen konnte. Dass nicht wieder das Wetter zu mies war, die Katzen daheim zu unruhig, das allgemeine Befinden zu schlecht …

Starke negative Empfindungen

Wann genau das mit den Depressionen angefangen hat, kann sie bis ins Detail nicht mehr genau nachvollziehen. Aufgefallen, dass etwas nicht stimmt, ist ihr erstmals Ende der Neunziger. Während eines Praktikums in einer Bretniger Firma, in der sie eigentlich eine Umschulung anstrebt, kommt es zu Unstimmigkeiten. „Ich nenne es hier einfach und verständlich Mobbing“, sagt sie. Die Arbeit dort machte Spaß, aber das Team stimmte nicht. Nach einem schlimmen Arbeitstag will sie am liebsten vor lauter Wut und Selbstzweifel auf dem Heimweg nach Kamenz an einen Baum fahren. „Diese starken negativen Empfindungen haben mir Angst gemacht und ich habe mir physiotherapeutische Hilfe besorgt“, erinnert sie sich. Damals reicht ihr noch ein Kurs autogenes Training aus.

Zu wenig Fachärzte?

Im Raum Kamenz (mit Königsbrück, Pulsnitz, Steina, Großröhrsdorf) gibt es nur fünf Fachärzte für Psychologie und Psychotherapie / Neurologen.

Psychotherapeutische Beratungen und Ansätze bieten weiterhin sieben Psychotherapeuten sowie eine Heilpraktikerin im genannten Bereich an.

Außerdem gibt es in Kamenz die Tagesklinik für Erwachsenen-Psychiatrie und Psychotherapie und eine für Kinder- und Jugend-Psychiatrie.

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Und die gelernte Facharbeiterin für Schreibtechnik sucht sich andere Arbeit. Dabei schaut sie nicht auf den Anspruch oder Schwierigkeitsgrad: Sie räumt Mist im Pferdestall, ist das Mädchen für alles in der Tunnel-Schenke in Brauna, fährt bei minus zehn Grad auf Märkte und betreut einen Verkaufsstand. „Ich wollte mein ganzes Leben immer nur mit Leuten zu tun haben, sah mich selbst als fröhlichen Menschen“, so Kerstin Schäfer. Die Ablehnung von anderen tut ihr deshalb fast körperlich weh. Und die Einschläge häufen sich.

So viel Kummer, so viel Trauer

2001 ist so ein Schicksalsjahr. Da stirbt ihr Vater an Krebs. Für die Mutter wird sie zum „seelischen Müllabladeplatz“, wie sie sagt. Bekommt aber selber nicht viel zurück. Es ist schwierig daheim. Auch mit ihrem Ehemann, den sie über alles liebt. „Da musste ich zum ersten Mal in Gesprächstherapie“, sagt Kerstin Schäfer. Vier Jahre später erkrankt der Schwiegervater. Es ist aber die Schwiegermutter, die kurz darauf dem Krebs als nächste erliegt. So viel Kummer, Trauer – das muss verdaut werden. Mit der eigenen Mutter liegt sie im Clinch. „Wir redeten zusammen, aber ein Teller, der mal geklebt wurde, sieht auch nicht mehr schön aus“, vergleicht die Kamenzerin das Verhältnis. Ihre eigene Tochter war mittlerweile in der Pubertät. Dann das Blackout: In der Silvesternacht 2005 will sie sich von der Friedensbrücke in Bautzen stürzen. Der Plan misslingt. „Weil in Thonberg Glatteis war, bin ich umgedreht. Das muss man sich mal vorstellen, wie ich da getickt habe“, schüttelt sie heute den Kopf. Am Neujahrsmorgen schreibt sie einen Abschiedsbrief, wirft diesen in den Briefkasten, nimmt eine Unmenge Schlaftabletten, trinkt eine halbe Flasche Rum. Legt sich ins Bett. Glücklicherweise wird sie gerettet. An viele Dinge erinnert sie sich nicht mehr aus dieser grauen, vernebelten Zeit.

Man redet nicht darüber

Der Rest ist jahrelanges Leiden. Antidepressiva. Rückschläge. Selbstzweifel. Ein Aufenthalt in der Kamenzer Tagesklinik. Zwischendurch lichte Momente – die neue Arbeit bei Vodafone. Die Geburt der Enkeltochter. Auch das Verhältnis mit ihrer Psychologin in Königsbrück sei prima. In guten Zeiten muss sie halbjährlich, in schlechten vierteljährlich hin. „Ich bin so froh, dass ich damals einen Termin ergattert habe und seitdem in ständiger Behandlung bin. Sonst sähe es schlecht aus. Es gibt nicht viele Fachärzte vor Ort. Viele müssen nach Dresden fahren“, weiß sie . Bei der Kamenzerin wird 2007 außerdem Grüner Star und später das Axenfeld-Rieger-Syndrom, ein seltener Gendefekt des vorderen Augensegments, diagnostiziert. Ob alles irgendwie miteinander zusammenhängt, kann ihr keiner sagen.

Insgesamt leiden in Deutschland derzeit über vier Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression, schätzt die Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Wer depressiv ist, gelte als weniger belastbar, weniger stressresistent und damit als weniger leistungsfähig. Also redet man nicht darüber. Auch Kerstin Schäfer ist seit 2012 EU-Rentnerin. Die Augenkrankheit spielt da vorrangig hinein. Sie will aber nicht mehr über ihre Depris schweigen, geht im Internet offen damit um, beantwortet Fragen auf Facebook, postet Texte zum Thema. Der Kampf bleibt.

„Man muss sich das so vorstellen, als ob man ständig nur ganz unten im Dunklen herum kriecht und nicht bis hoch ans Licht kommt. Ab und zu bekomme ich meine Haare zu greifen, an denen ich mich dann bildlich hochziehe“, sagt sie.