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Sturz in ein neues Leben

Zwei Jahre nach dem Horror-Unfall stellt sich Skispringerin Ulrike Gräßler wieder der Konkurrenz – und ihrer Angst.

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© DSV

Von Michaela Widder

Als sie das erste Mal wieder dort oben auf dem Balken sitzt, der Blick ins Tal, blitzt dieser Gedanke in ihren Kopf. „Wenn ich jetzt nicht loslasse, dann nie.“ Hätte sie es beim Versuch belassen und nicht gewagt, jeder hätte es wohl verstanden. Doch Ulrike Gräßler springt ab – und fliegt wieder. Zwei Jahre, es war der 11. Dezember 2015, ist es jetzt her, dass die Skispringerin beim Continentalcup im norwegischen Notodden einen Horrorsturz erlebt. Erschreckend liest sich noch heute ihr Krankenbericht: komplizierter Bruch im linken Schlüsselbein, acht gebrochene Rippen, Lunge geschädigt, Band am Daumen gerissen, Kreuzbandriss, beide Menisken im Knie kaputt, Bänderschaden im linken Sprunggelenk. Man wäre schneller beim Aufzählen, was ganz geblieben ist.

Doch schon im Krankenhaus fasst sie den Entschluss, es zu versuchen, irgendwann noch einmal auf die Schanze zurückzukehren. „Ich dachte mir: Aufhören ist der einfache Weg.“ Die 30-Jährige, die 2009 bei der ersten Weltmeisterschaft für Frauen die Silbermedaille gewann, muss dreimal operiert werden und sitzt für sechs Wochen im Rollstuhl. 20 Monate dauert es, bis sie sich wieder auf eine Schanze wagt. „Natürlich gab es Phasen, in denen hätte ich am liebsten alles hingeschmissen.“

Kein Arzt konnte sagen, ob und wann die Eilenburgerin wieder springen kann. „Es war ein langer Weg. Und ich habe mich über jeden kleinen Erfolg gefreut.“ Als sie im August vorigen Jahres noch am Sprunggelenk operiert werden muss, wirft das die Pionierin ihrer Sportart abermals zurück. Erst seit Ende Juni ist Gräßler wieder an der Polizeisportschule in Bad Enndorf zum Training. Noch immer macht sie viel Physiotherapie, weil das Knie und Sprunggelenk „nicht hundertprozentig gut“ sind.

Die körperlichen Folgen sind die eine Seite, aber was hat der schlimme Sturz im Kopf hinterlassen? Vor dem ersten Sprung am 5. August in Berchtesgaden von der 60-Meter-Schanze ist sie sehr nervös, spricht von einem mulmigen Gefühl. „Wieder in die Anlaufspur zu gehen, das Gefühl zu fliegen, war dann einfach schön. Das Kribbeln im Bauch hat für eine Menge weniger schöner Dinge in den letzten Monaten entschädigt“, erzählt sie. Schritt für Schritt tastet sich Gräßler an die größeren Schanzen heran. „Jeder Sprung hilft, um Sicherheit zu bekommen. Aber Angst und Respekt sind da. Ich springe nicht mehr so frei wie früher.“ Anfang November macht sie ihren ersten Wettkampfsprung nach fast zwei Jahren. Bei den Deutschen Meisterschaften in Oberstdorf wird sie Elfte unter zwölf Skispringerinnen. „Es war eine Standortbestimmung, und es ging mir darum zu schauen, wie weit weg ich bin.“ Fast 20 Meter hinter Siegerin Katharina Althaus landet Gräßler. Eigentlich kam der Wettkampf für sie zu früh, ihr fehlen hunderte Trainingssprünge.

Die beste sächsische Springerin ist realistisch, ihren Status quo einzuschätzen. „Ob es noch einmal für ganz weit vorn reicht, kann ich im Moment nicht sagen. Aber ich will noch einmal angreifen“, sagt sie. Wie rasant die Entwicklung im Frauen-Skispringen ist, wird Gräßler in der jetzigen Situation besonders bewusst. „Früher sind wir von Luke 20 gestartet, jetzt von 30. Die Anlaufgeschwindigkeit ist um anderthalb bis zwei km/h höher“, erklärt sie.

Und die Konkurrenz ist größer geworden. Mit Olympiasiegerin und Doppel-Weltmeisterin Carina Vogt sowie Mixed-Weltmeisterin Althaus bestimmt die deutsche Mannschaft die Weltspitze. „Ich weiß, dass es ganz schwer wird, mich wieder fürs Weltcupteam anzubieten,“

Die Winterspiele in Pyeongchang sind für Gräßler ein utopisches Ziel. Dabei hat sie noch eine Rechnung mit den fünf Ringen offen. Ausgerechnet bei der Olympiapremiere des Frauen-Skispringens, für die sie jahrelang gekämpft hatte, landete sie 2014 in Sotschi nach einer Fiebererkrankung im Feld der Geschlagenen. Wenn nicht ein Wunder passiert, muss sie diesmal sehr wahrscheinlich vorm Fernseher zuschauen.

Die Sportpolizistin kämpft national um den Anschluss und bekommt dafür am Wochenende die nächste Chance beim Heim-Weltcup in Hinterzarten. Als erste Hürde sei die Qualifikation am Freitag zu überstehen. Dafür muss Gräßler mit einem Sprung unter die besten 40 kommen. Es ist der erste Wettkampf auf Schnee seit dem Horror-Unfall vor zwei Jahren. „Das ist schon was anderes. Da muss ich mir erst noch Vertrauen holen“, sagt sie. Im Sommer seien alle Schanzen gleich gut präpariert, im Winter sei das jedoch anders. „Der Sturz passierte damals auf Schnee. Im Unterbewusstsein spielt das schon eine Rolle, dass ich wahrscheinlich vorsichtiger bin.“

Die Unglücksserie von Thomas Diethart hat Gräßler natürlich mitbekommen. Der österreichische Überraschungssieger der Vierschanzentournee 2014 hat Anfang Dezember bereits seinen dritten brutalen Sturz in nicht einmal zwei Jahren erlebt. Noch im Oktober hatten sich die beiden für einen Termin in Klingenthal getroffen und ihre Leidensgeschichten geteilt. Nun erwischte es den 25-Jährigen erneut. „Das ist schon krass,“, meint sie.

Als sich ihr Unfall an diesem Montag zum zweiten Mal jährte, musste sie zum Glück nicht auf die Schanze. „Der Tag wird immer in meinem Gedächtnis bleiben.“ Es war der Sturz in ein neues Leben.