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Straßenschlachten in Odessa

In der südukrainischen Hafenstadt sterben 46 Menschen. Nach Demonstrationen lässt die Polizei Verhaftete wieder frei.

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© dpa

Von Paul Flückiger

Odessa erhebe dich!“ und „Russland! Russland!“, riefen gestern die Teilnehmer eines prorussischen Protestzugs durch die südukrainische Hafenstadt Odessa. Nach einer Kundgebung von rund 2 000 Gegnern stürmten sie auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft einen Polizeiposten. Die mit Knüppeln bewaffnete Menge durchbrach ein Tor und forderte die Freilassung von Gesinnungsgenossen. Spezialeinheiten drängten die mit Knüppeln bewaffneten Angreifer laut örtlichen Medienberichten zuerst zurück. Unter dem Druck der Demonstranten habe die Polizei später zahlreiche Gefangene freigelassen, die nach den jüngsten Unruhen festgenommen worden waren. Augenzeugen sprachen von 67 Menschen.

Straßenschlachten und ein anschließendes Feuer hatten in Odessa in der Nacht zu Sonnabend mindestens 46 Todesopfer gefordert. Über 200 Menschen wurden verletzt, mindestens 144 festgenommen. 38 Personen kamen beim Brand des Gewerkschaftsgebäudes im Stadtpark „Kulikowo Pole“ unweit des Hauptbahnhofes ums Leben. Viele sprangen in der Nacht aus dem brennenden Gebäude. Das am Freitagabend von prorussischen Separatisten besetzte Gewerkschaftshaus war bei Auseinandersetzungen zwischen Fußball-Hooligans aus Odessa und Charkiw und den Separatisten in Brand geraten. Beide Gruppen warfen mit Molotow-Cocktails um sich. Die Ultras marschierten vor dem Gewerkschaftshaus auf, nachdem die Pro-Russen am Nachmittag einen friedlichen Marsch für die Einheit der Ukraine angegriffen hatten. Dabei gab es die ersten vier Todesopfer. „Die Separatisten bauten eine Barrikade und schossen plötzlich scharf auf uns“, berichtete die Aktivistin Alena Balaba im Gepräch mit dieser Zeitung.

Der ukrainische Regierungschef Arseni Jazenjuk machte bei einem Besuch in Odessa Russland für die jüngsten Straßenschlachten verantwortlich. Es habe sich um einen „organisierten Angriff auf das Volk“ gehandelt, sagte der prowestliche Politiker. „Es war Russlands Absicht, in Odessa zu wiederholen, was sich im Osten des Landes ereignet“, meinte Jazenjuk.

Ukraine-Krise: Ereignisse am Wochenende

Angriffe im Osten

An der Grenze zu Russland herrschen zunehmend bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Armee rückt in vielen Großstädten vor. Bei den Gefechten gibt es Tote und Verletzte. In Donezk nehmen die Separatisten wieder ein Geheimdienstgebäude ein.

Russlands Reaktion

Noch vor kurzem hatte der Kreml einen Einmarsch für den Fall angedroht, dass die russischstämmige Bevölkerung in der Ostukraine zu Schaden kommt. Moskau belässt es nun bei scharfer Kritik: Kiew führe eine „Strafaktion gegen das eigene Volk“ durch.

Freilassung der Geiseln

Nach mehr als einer Woche Geiselhaft kommen die OSZE-Beobachter, unter ihnen vier Deutsche, frei. Wie dramatisch ihre Lage war, schildert ein tschechischer Offizier. Die Männer hätten mehrfach das Gefühl gehabt, in Lebensgefahr zu sein.

Lage in anderen Landesteilen

Die Gewalt greift auf die Stadt Odessa über, die einst als Metropole des Humors und der Toleranz galt. Mehr als 40 Menschen kommen ums Leben. Die meisten sterben im großen Gewerkschaftshaus, das von Randalierern in Brand gesetzt wurde.

Ärger für Unions-Politiker

Für Philipp Mißfelder (CDU) könnte der Geburtstagsempfang für Altkanzler Gerhard Schröder in Russland ein Nachspiel haben. Parteifreunde sprechen von einer „instinktlosen Teilnahme“ Mißfelders an der Feier mit dem in der Ukraine-Krise heftig kritisierten russischen Präsidenten Putin.

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Die Ausschreitungen seien von einer „illegalen bewaffneten Gruppe“ aus dem nahen moldauischen Separatistengebiet Transnistrien provoziert worden, die von russischen Agenten geführt werde, erklärte der ukrainische Geheimdienst. Der ebenfalls in die Südukraine geeilte Witali Klitschko gab der Passivität der staatlichen Sicherheitsorgane Schuld. Die prorussischen Separatisten befestigten gestern eine große russische Flagge am ausgebrannten Gewerkschaftshaus an. Viele Einwohner Odessas brachten Blumen und Kerzen.

Anti-Terror-Einsatz geht weiter

Die ukrainische Armee setzte derweil auch am Wochenende ihre Offensive im Norden des Verwaltungsbezirks Donezk fort. In der Stadt Kramatorsk, 15 Kilometer südlich der Rebellenhochburg Slawjansk, vertrieb sie die pro-russischen Separatisten aus dem Gebäude des Geheimdienstes und dem Fernsehturm. Mehrere Straßenblockaden wurden ebenfalls erobert. In Slowjansk hatte der selbsternannte Bürgermeister und Rebellenchef Wjatscheslaw Ponomariow die OSZE-Geiseln mit ihren ukrainischen Begleitern am Samstagmorgen überraschend freigelassen. „Wir hatten mit den Gästen zusammen noch meinen Geburtstag gefeiert, dann ließ ich sie wie versprochen frei“, sagt Ponomariow lachend.

In der Verwaltungshauptstadt Donezk musste die Kiewer Regierung indes eine weitere Niederlage einstecken, als mehr als Tausend prorussische Demonstranten das Geheimdienstgebäude stürmten und einnahmen. Auch im benachbarten Lugansk konnten die -russischen Rebellen ihre Positionen ausbauen. In der Nacht auf Sonntag griff die separatistische „Südost“-Armee einen Stützpunkt der ukrainischen Innenministeriumstruppen an. In Jenakiewo bauten prorussische Demonstranten Barrikaden um das Rathaus und besetzten eine Metallfabrik. In einem Krisentelefonat mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte Russlands Präsident Wladimir Putin nach Kreml-Angaben am Sonntag einen Dialog zwischen der Zentralmacht in Kiew und den Protestführern.

Auf der von Russland annektierten Krim verhinderten am Wochenende 200 russische Omon-Truppen die Einreise des Tatarenführers Mustafa Dschemilew. Die Krim-Führung hatte ihn mit einer fünfjährigen Einreisesperre in seine Heimat belegt, nachdem er zum Boykott des „Referendums“ aufgerufen hatte. Auf der südlichen Seite der nicht anerkannten Grenze demonstrierten rund 5 000 Tataren.

In 14 Tagen jährt sich die Vertreibung der Tataren aus der Krim zum 70. Mal. In Simferopol und Sewastopol landeten am Sonnabend mehrere russische Bomber. Sie sollen für die russische Militärparade vom 9. Mai nötig sein, behauptet Moskau. In der Ukraine hat dies die Furcht vor einer russischen Invasion in der nördlichen Oblast Cherson wieder angestachelt. (mit dpa)