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Steine des Anstoßes

Eine neue SZ-Serie beleuchtet die Schicksale zu den Stolpersteinen in der Stadt. Teil 1: Der harte Kampf um die Erinnerung.

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© Archiv/Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Meißen. Als Stadtchronist Gerhard Steinecke sein Vorhaben schildert, ist er guter Dinge, dass es noch im selben Jahr über die Bühne gehen wird. „Jeweils ein Pflasterstein sollte vor dem entsprechenden Haus durch eine besondere Farbe, einen Namen sowie den Davidstern an die vertriebenen Bewohner erinnern, was ohne große Kosten zu bewältigen und außerdem für das Stadtbild nicht störend ist.“

Keine Steine ohne Steinecke: Der Stadtchronist setzte sich jahrelang für ihre Verlegung ein.
Keine Steine ohne Steinecke: Der Stadtchronist setzte sich jahrelang für ihre Verlegung ein. © SZ/Jörg Schubert (Archiv)
Steineckes Nachlass war Recherchegrundlage für die SZ-Serie.
Steineckes Nachlass war Recherchegrundlage für die SZ-Serie. © privat

Diese Zeilen schreibt er am 20. Januar 2005 an Judy Benton. Die Brieffreundschaft zur Jüdin und früheren Meißnerin, die als Jugendliche vor der Gestapo nach England fliehen musste, besteht da bereits seit knapp neun Jahren. Steinecke hat die Geschichte ihrer getöteten Eltern über viele Jahre akribisch recherchiert, er will, dass die ersten Gedenksteine in Meißen ihnen gewidmet werden. Er weiß noch nicht, welcher Kampf auf ihn zukommen wird.

Diesen hat er, wie so Vieles in seinem Leben, genau dokumentiert: in Briefen, ausgedruckten E-Mails, handschriftlichen Notizen. Das Meißner Stadtarchiv bewahrt seinen Nachlass auf, der Chronist starb am 23. November 2013 im Alter von 80 Jahren. In einem dicken Papphefter mit der Aufschrift „Stolpersteine“ sind alle Dokumente zu seinem Herzensanliegen gesammelt.

Darin findet sich auch die Kopie eines Briefes an Judy Benton vom August 2012, datiert siebeneinhalb Jahre nach der Ankündigung seines Vorhabens. Das Projekt Stolpersteine wird erst jetzt wirklich konkret – Ende Oktober werden die Steine für das Ehepaar Leo und Regina Mosszizki verlegt – und Steineckes Tonfall ist nicht nur deshalb inzwischen ernüchtert: „Die entsprechende Bestellung, Gestaltung und Finanzierung habe ich noch organisiert“, schreibt er, „doch wie so oft im Leben, spiele ich jetzt keine Rolle mehr, schmückt man sich mit meinen Erarbeitungen und will auch die Stadtverwaltung, die ich kritisierte, nichts mit mir zu tun haben – und da es mir nicht liegt, um Beachtung zu buhlen, werde ich mich damit abfinden“. Steinecke erklärt, dass er sich während des Besuchs der 90-Jährigen in Meißen deshalb zurückhalten werde. Was war passiert?

Schon 2005 wendet Steinecke sich an das Denkmalamt der Stadt. In einer ganzseitigen Chronik zur Stolperstein-Odyssee, die er sich als Gedankenstütze angelegt haben muss, schreibt er dazu: „keine Reaktion“. Auch an den Oberbürgermeister und die Kirche tritt er in dieser Zeit heran. Und noch 2011 vermerkt er: „Da zahlreiche Anfragen, Vorschläge oder Anliegen an die Stadtverwaltung bisher unbeantwortet blieben, erbat ich mir vom Herrn Oberbürgermeister Raschke eine persönliche Vorsprache.“ Doch auch von Pressereferentin Inga Skambraks bekommt er monatelang keine Antwort. Dabei ist die Finanzierung der beiden Steine, je 120 Euro, bereits geklärt: Die Otto-und-Emma-Horn-Stiftung übernimmt die Kosten.

Im Juli 2010 scheinen die Steine in greifbarer Nähe, Steinecke hat den Auftrag bereits dem Kölner Künstler Gunter Demnig erteilt – und erhält auch von ihm lange keine Antwort. Im November hakt der Stadtchronist mit deutlichen Worten nach: „Ich würde es sehr bedauern, wenn ich nicht den üblichen Deutungen von Wessi-Arroganz, Dünkel der 68er gegenüber SED-Opfern oder gar antisemitischen Tendenzen entschieden und sachlich entgegentreten könnte.“ Einen Tag später die saloppe E-Mail-Antwort des Künstlers: „Weiß beim besten Willen nicht, was ich da verschlampt haben soll.“

Der Auftrag muss dann ohnehin zurückgezogen werden, weil die Erlaubnis fehlt. Im Kulturausschuss wird hitzig über die Steine debattiert. Erst als sich Pfarrer im Ruhestand Jürgen Günther mit einem Schreiben an Baubürgermeister Steffen Wackwitz wendet, kommen die Antworten schneller. Zufriedenstellender sind sie nicht: Der politische Wille müsse durch den Stadtrat geklärt werden, schreibt Wackwitz. Das Anliegen wird an den Sozial- und Kulturausschuss weitergeleitet. Der verschiebt es aber noch einmal. Wieder muss Steinecke dem Künstler absagen.

2012 gründet sich dann die Bürgerinitiative Stolpersteine, in der sich neben Pfarrer Bernd Oehler und Jürgen Günther Vertreter der Parteien engagieren. Damit ist Steineckes Herzensanliegen nicht länger zu ignorieren. Im September 2012 beschließt der Stadtrat eine Liste mit zwölf Namen, an die Stolpersteine in Meißen erinnern sollen. Nach dem Ehepaar Mosszizki werden noch vier weitere Steine verlegt. Gerhard Steinecke erlebt das nicht mehr.

Lesen Sie in Teil 2: Wie Ida Mosszizki zu Judy Benton wurde und warum ihren ermordeten Eltern noch immer unter falschem Namen gedacht wird.