Von Peter Redlich
Die Sonne sengt. Die Oberschenkel brennen. Doch das Radfahrerherz ist randvoll mit Glück: Geschafft!
Wir sind auf dem Tourmalet. Dem Pyrenäenpass, auf den sich schon Eddy Merks, Jan Ulrich und zig andere Radhelden quälten. 55 Mal war der legendäre Col du Tourmalet das Etappenziel beim berühmtesten aller Radrennen – der Tour de France. 2 115 Meter über dem Meeresspiegel, zeigt eine Tafel an. Ein Foto gehört an dieser Stelle für jeden dazu, der es geschafft hat. Und das sind längst nicht mehr nur Profis.
Wir sind Bruno Valke gefolgt. Der 43-Jährige ist Bergführer – mit dem Rennrad. An manchen Tagen fährt er auf zwei Pässe. Erst den Col d‘Aspin, dann den Tourmalet. Jede Kurve, jedes Prozent Steigung kennt er aus dem Effeff. Die steilen Flanken und die flacheren Abschnitte, die 300 Höhenmeter weiter oben folgen sollen.
Bis dahin ist es noch ein Stückchen. Die Skistation Pic du Midi,Bagnères-de-Bigorre, kommt in Sicht. Mit 69 Pisten ist es das größte Skigebiet Frankreichs. Im Sommer, gehört die Gegend den Wanderern und Radfahrern. Wir verlassen den Schatten der Bäume. Wer nicht gecremt hat, sollte es spätestens hier nachholen. UV-Strahlen auf 2 000 Metern Höhe sind bissig. So wie die bevorstehenden Steigungen.
Bruno beruhigt. Er zeigt auf die Seilbahn, die hinauf zum Observatorium führt. Dort, in 2 877 Metern Höhe, schauen Europas Weltall- und Luftforscher ins All. Downhillfahrer lieben die Gegend, weil sie sich hier in halsbrecherischer Manier in Gletscherrinnen zu Tal stürzen können.
Tipps für einen Zwischenstopp
Wir strampeln weiter bergan. Mühsam erkämpfen wir uns jeden Kilometer, der Tacho zeigt im Schnitt 8 km/h. Da surrt es plötzlich hinter uns. Scheinbar mühelos überholt uns ein Grüppchen Mittfünfziger, die meisten ohne Schweißperle auf der Stirn. Aha, E-Bikes! Kurz kommt Neid auf. Sven, unser Fahrradmechaniker, erzählt uns, dass die Fahrräder mit Motorunterstützung stark im Kommen sind. „Immer mehr Ehepaare setzen auf den Radmix – er auf dem Rennrad, sie mit der frisch geladenen Batterie am Renn- oder Trekkingbike. Das Erlebnis ist für beide gleich schön. Eine Batterie hält bis zu zwei Passfahrten.
Wir gönnen uns an diesem herrlichen Junitag einen Pass. Nicht irgendeinen, sondern den Pass der Pässe. Den Tourmalet. Unzählige Tourcracks sind schon hier raufgekurbelt. Gesäumt von Menschenmassen, ächzend unter Entbehrungen, genervt von Radschäden. Die Fotos, Plakate und Fahrräder in der Gipfelbaude erinnern an die teils unmenschlichen Strapazen der Tourmalet-Pioniere.
Doch dort sind wir noch lange nicht. Brunos Hinweis auf sanftere Steigungen weiter oben unterscheidet sich von der Wirklichkeit; es muss etwas mit seiner und unserer Fitness zu tun haben. Während er immer noch mit den E-Bike-Mädels scherzt, haben wir nicht mal mehr Lust auf ein Grinsen. Hilft nix – noch fünf Kilometer bis zum Zielfoto. Wirklich gut auf den Pyrenäen-Pässen sind die Hinweistafeln. Erst tauchen sie aller drei Kilometer auf, zuletzt nach je einem Kilometer. Sie zeigen die Entfernung bis zum Pass sowie die aktuelle und die Zielhöhe an. Bergfahrer wissen, dass raufwärts zuerst die Höhenmeter zählen.
Bergfahrer wie Christian Lafont. Er nimmt an einem Tag schon mal 160 Kilometer und über 4 000 Höhenmeter unter die Pedale. Und das im Feuerwehrtempo. Christian ist nämlich Welt- und Frankreich-Meister der Rad fahrenden Feuerwehrmänner. Eigentlich könnte der 60-Jährige seinen verdienten Ruhestand genießen. Aber Ruhe will er noch nicht. Mitten im Pyrenäenstädtchen Luchon hat er eines der typischen Berghäuser aus Bruchsteinen zum kultigen Fahrradladen ausgebaut. Bei ihm gibt es Carbonbikes, E-Bikes und, natürlich gratis, stimmige Ratschläge für die Passfahrt. Sein Lieblingsberg ist allerdings nicht der Tourmalet, der dieses Jahr nicht bei der Tour angesteuert wird, sondern der Peyragudes.
Am 13. Juli werden die Teilnehmer der diesjährigen Tour de France dort oben ankommen. Es wird die wohl spektakulärste Zielankunft – auf Frankreichs höchstgelegenem Flughafen in den Pyrenäen. Der Endspurt findet auf der Startrampe statt; sie ist gerade mal 340 Meter lang – bei 16 Prozent Steigung. Zum Vergleich: Die Steile Wand von Meerane hat nur zwölf Prozent Steigung. Vor 20 Jahren wurde auf dem Plateau der legendäre James-Bond-Streifen „Der Morgen stirbt nie“ gedreht. Der Flugplatz wurde dafür in eine afghanische Basis verwandelt.
Filmerinnerungen, die bei uns gerade weit weg sind. Unser Kopf signalisiert unablässig: Du schaffst das! Drei Kilometer und 400 Höhenmetern zeigt das Schild bis zum Ziel. Die Passpassage ist schon zu sehen, aber die Sonne brennt gnadenlos. Die Schafe auf den spärlich von Gras bewachsenen Bergweiden schmiegen sich hinter Steine, um wenigstens etwas Schatten abzubekommen oder lecken am Wasser, das von den Schneeresten zu Tale rinnt. Wir drücken die letzten Schlucke aus der Trinkflasche und sehen die allerletzte Kehre vor uns. Namen von Tourhelden sind auf die Straße geschrieben. Darunter steht „Allez hop Chris“ oder „Allez hop Alberto“. Wir stellen uns vor, wie die Menschen jubeln, mitrennen und Fahnen schwenken.
An diesem Junitag sind wir mit dem Berg allein. Adrenalin schießt vom Kopf in die Oberschenkel. Wir schalten noch mal drei Ritzel runter und gehen aus dem Sattel. 300 Meter. 200 Meter. 100 Meter. Zielstrich. Applaus von den E-Bikern für die nur Muskelgetriebenen. Rennradfahrer und E-Biker, Männer und Frauen – alle umarmen sich. Alle sind Tourmalet-Helden. Wie Jan Ullrich, Richard Virenque, Chris Froome und all die anderen.