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Stecken geblieben

Wo kommt man mit Rollstuhl und Rollator nicht weiter? Schüler testeten das in einem Projekt für ihre Großeltern.

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© Arvid Müller

Von Ulrike Keller

Radeburg. Endstation Bordsteinkante. Mehrfach nimmt die zwölfjährige Mandy vor dem Geschäft an der Ecke Kirchgasse/Markt Anlauf mit ihrem Rollator. Vergebens. Das Hindernis ist zu hoch. Sie prallt einfach nur dagegen. Das Gleiche erlebt ihr Schulkamerad Dominic im Rollstuhl. „Es geht nicht“, sagt er nach zig Anstößen.

Rollator und Rollstuhl sind in diesem Fall nur geborgt. Für einen Selbsterfahrungstest im Rahmen eines Schulprojekts. Das führen erstmals die Heinrich-Zille-Oberschule und das Geriatrische Netzwerk (GerN) Radeburg durch. „Ziel ist es, eine Woche lang Jugendliche für die Situation betagter Menschen zu sensibilisieren und den jungen Leuten Wissen zu vermitteln, das sie an ihre Großeltern weitergeben können“, sagt GerN-Koordinatorin Nicole Schubert. Beispielsweise darüber, wie sich schwere Stürze verhindern lassen. Prävention heißt das Stichwort. Die Schule gehört zu den rund 300 langjährigen Partnern des Netzwerks, das sämtliche Angebote für Senioren in der Region verknüpft. Weitere Unterstützer sind neben Ärzten und Therapeuten auch das Rathaus und die Polizei.

Die Mission am gestrigen Mittwoch lautet, vorhandene Barrieren und Stolperfallen in der Stadt ausfindig zu machen. Zwei siebte Klassen begehen in Gruppen verschiedene Stadtteile und wenden ein einheitliches Ampelsystem an: Grün markieren sie in der Stadtkarte, wo sie eine barrierefreie Gestaltung entdecken. Gelb vermerken sie Stellen, an denen Kleinigkeiten nicht in Ordnung sind. Und rot kennzeichnen sie, wo die baulichen Voraussetzungen ein echtes Problem darstellen.

„Definitiv rot“, ist sich die Schülergruppe am Markt einig. Anna als die Fotobeauftragte dokumentiert die Bordsteinkante per Kamera. Während Senioren ohne Begleitung auf fremde Hilfe angewiesen wären, können sich die Jugendlichen gegenseitig zur Hand gehen und die Hilfsmittel anheben, kippen und schieben. „Mit Rollstuhl oder Rollator müsste man hier auf der Straße fahren“, resümiert Nicole Schubert vom GerN Radeburg. Sie begleitet die Gruppe ebenso wie zwei Bürgerpolizisten.

Gestartet sind alle Teams an der Zille-Oberschule. Auch Befragungen stehen auf der Aufgabenliste dieser kritischen Stadt-Besichtigung. „Haben Sie kurz eine Minute Zeit für ein Interview?“, tasten sich die Mädchen bei einer Seniorin vor. Sie reagiert aufgeschlossen. Die 87-jährige Frau bemängelt das „fürchterliche Pflaster“ vom Kirchplatz bis zur Konditorei am Markt.

Auch eine 79-jährige Radfahrerin hält an. Sie erwähnt ein „tüchtiges Loch“ auf der Straße an der Promnitz, gegenüber vom Busbahnhof. Polizeikommissarin Michaela Stübler verspricht: „Ich guck mir das mal mit an.“ Pflichtbewusst zücken die jungen Leute auch die Flyer für Freitag. Da ist für Radeburger Senioren ein großer Aktionstag geplant. Weil der diesmal zugleich den Höhepunkt der Projektwoche bildet, ist der Ort des Geschehens von 10 bis 12 Uhr der Schulhof an der Schulstraße 4.

Nächster Zwangshalt am Markt: vor Edeka. Eine hohe Stufe macht den Zugang mit Rollator und Rollstuhl unmöglich. Cornelius holt das Maßband raus: 18 Zentimeter misst das Hindernis. Sofort ist eine freundliche Mitarbeiterin da, die Fragen beantwortet. Sie erzählt von einer mobilen Rampe, die sie heranholen kann, die aber recht schwer ist. „Meistens bringen wir die Produkte zur Tür oder packen beim Rollator mit an“, sagt sie. Die Gruppe befindet, die Stelle gelb einzutragen.

Weiter geht’s zum Fotoladen. Neben einer hohen Stufe gilt es hier noch, eine scharfe Kante zu überwinden. „Allein nicht zu machen“, weiß Dominic mittlerweile einzuschätzen. Wie seine Mitstreiter feststellen, gestaltet sich am Markt das Hereinkommen in fast jeden Laden mit Rollstuhl oder Rollator schwierig. „Aber hier soll etwas gemacht werden“, berichten sie vom Gespräch mit der Bürgermeisterin.

Michaela Ritter (parteilos) hat ihnen ebenfalls im Rahmen dieser Projektwoche eine kleine Einführung in die Stadtplanung nach barrierearmen Gesichtspunkten gegeben. Laut dem aktuellen Stand wird die Insel mit dem Brunnen nach der Umgestaltung im nächsten Jahr nicht mehr erhaben sein. Und bis 2025 sollen die meisten Bushaltestellen in Radeburg so angepasst werden, dass Buseinstieg und Bordstein auf einer Höhe sind.

„Für die Projektwoche bin ich sehr dankbar“, sagt die Bürgermeisterin. Immerhin sei ein Drittel der Bevölkerung Radeburgs über 60 Jahre alt. Das mache deutlich, wie wichtig das Thema ist. Michaela Ritter zeigt sich überaus offen dafür, die Ergebnisse der Schüler weiter zu nutzen und an der einen oder anderen Stelle auch Anregungen aufzugreifen. „Die Projektwoche soll nicht verpuffen“, betont sie.

Auch die Jugendlichen finden gut, was sie diese Woche mitbekommen. Ihr Urteil bewegt sich zwischen „interessant“ und „cool“. Dominic sagt: „Man kriegt Erfahrung darin, wie sich ältere Leute fühlen.“