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Stadtchronist löst Rätsel um NS-Rathaus-Chef

Lange hat Paul Namyslik dem Ex-Bürgermeister nachgespürt. Nach einer Odyssee fand er endlich, was er gesucht hat.

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© Sebastian Schultz

Von Eric Weser

Gröditz. Manchmal hilft nur noch ein Akt der Verzweiflung. „Ich wusste, dass er bei Hainichen geboren wurde“, erzählt Paul Namyslik. Im Telefonbuch findet der Gröditzer Ortschronist einige Leute mit dem gesuchten Nachnamen in Mittelsachsen. Doch nach mehreren erfolglosen Anrufen gibt Namyslik zunächst auf. Keiner ist verwandt mit dem Mann, für den sich der Hobbyhistoriker so brennend interessiert.

In die Ära Pönitz fiel der Bau des ehemaligen Hitler-Jugend-Heims, dem heutigen Jugendzentrum an der Kleist-Straße (oben rechts).
In die Ära Pönitz fiel der Bau des ehemaligen Hitler-Jugend-Heims, dem heutigen Jugendzentrum an der Kleist-Straße (oben rechts). © Postenkarte: Archiv Paul Namyslik

Der heißt Herrmann Max Johannes Pönitz, Rufname Johannes. Und war Bürgermeister in Gröditz im Zweiten Weltkrieg. Von 1937 bis 1945 lenkt er die Geschicke der Stadt, die damals noch eine Gemeinde war. Aus dem Archiv weiß der Ortschronist, dass Pönitz Anfang Oktober 1937 ins Amt kam. Mit dem Versprechen, den Wohnungsbau anzukurbeln und sparsam zu sein mit dem Gemeindegeld, setzte sich der damals 32-Jährige gegen einen Mitbewerber durch, verraten die Ratsprotokolle.

Gröditz, Goslar, Ruhrgebiet

Einiges ist heute über Johannes Pönitz bekannt. Dass er den Wohnungsbau vorangetrieben hat in der damals wachsenden Kommune. Auch der Bau des ehemaligen Gröditzer Freibades fiel in seine Amtszeit. Ein Phantom ist der Kaufmann dennoch. Denn er ist der letzte Gröditzer Bürgermeister, von dem es nirgendwo ein Bild gab. Bis jetzt. Mit detektivischem Gespür und etwas Glück hat Paul Namyslik rechtzeitig vorm großen Festjahr eins aufgetrieben – und ist nebenher in die Familiengeschichte der Pönitzens eingetaucht.

Dreh- und Angelpunkt der erfolgreichen Recherche ist ein Sohn des Ex-Bürgermeisters. Der ist 1939 in Gröditz geboren worden, lebt aber wie die gesamte Familie aber längst nicht mehr hier. Seine Heirat jedoch wird in den 1970er Jahren im Gröditzer Standesamt vermerkt. Was Ortschronist Namyslik wundert, da der Pönitz-Spross seine Frau damals im westdeutschen Goslar ehelichte.

Ausgestattet mit dieser Information wendet sich Paul Namyslik an die Stadt Goslar. Wo man zunächst zurückhaltend reagiert. Als der Gröditzer nachweisen kann, dass er im offiziellen Auftrag für die Gröditzer 800-Jahr-Feier unterwegs ist, hilft die Behörde. Die Spur führt nun ins Ruhrgebiet. Auch dort stellt der Gröditzer sein Anliegen vor – und wieder gibt es nach anfänglicher Skepsis einen hilfreichen Hinweis. Der Pönitz-Sohn sei innerhalb des Ruhrgebietes umgezogen. Beim Anruf im nächsten Rathaus scheint das Ziel ganz nah. „Man sagte mir, ja, er wohnt in der Stadt“, sagt Paul Namyslik. Die Telefonnummer rückt das Amt aber nicht heraus.

Der Ortschronist sucht selbst, wird fündig – und wählt. Plötzlich hat er den Sohn des lange gesuchten, früheren NSDAP-Bürgermeisters an der Strippe. Die beiden Männer sind fast ein Alter, sie plaudern eine Weile. Dann dauert es noch ein paar Tage – und endlich hat Paul Namyslik, wonach er gesucht hat. In einem Brief aus dem Ruhrgebiet steckt das ersehnte Foto für die Stadtchronik. Darauf: Johannes Pönitz. Dunkler Anzug und Krawatte, weißes Hemd. Die Haare ordentlich nach links gescheitelt, der wache Blick geradeaus.

Einen Recherche-Aufwand wie diesen hat Paul Namyslik noch nie betrieben. „Ich war beglückt, als ich das Bild geschickt bekam“, sagt der Hobbyhistoriker. Er weiß, dass er auch ein wenig Glück hatte. „Wenn der Sohn nicht in Gröditz geboren und seine Heirat vermerkt gewesen wäre, dann hätte ich ihn wohl nicht gefunden.“

Inzwischen weiß Paul Namyslik eine Menge über die Historie der Familie Pönitz – und ist auch über einen populären Irrtum aufgeklärt worden. Anders als manch alter Gröditzer meinte, ist ein Teil der Sippe nach dem Krieg nicht nach Kanada ausgewandert, sondern nach Australien.

Im Land der Kängurus

Wo auch noch heute Nachfahren des Ex-Bürgermeisters leben. Auch der Sohn, der das Foto geschickt hat, war mit ausgewandert, kehrte aber in die BRD zurück. Eine weitere Tochter lebt im Norden Deutschlands, wo auch Johannes Pönitz und seine Frau begraben liegen. Von der Tochter hat Paul Namyslik jetzt auch erfahren, dass der Ex-Bürgermeister 1944 an die Kriegsfront musste – weil er bei der NSDAP aus ungeklärter Ursache in Ungnade gefallen war. „Das wusste ich bisher nicht“, so Namyslik. Offiziell wurde Pönitz bis 1945 als Amtsinhaber geführt. Doch auch der Chronist konnte der Familie Neues erzählen: „Der Sohn wusste nicht, dass der Vater schon 1931 in die NSDAP eingetreten war. ‚Das hat er mir nie erzählt!‘, hat er mir gesagt.“

Nach Kriegsende flogen Pönitz’ Frau und die Kinder aus ihrer Wohnung im Rathaus-Dachgeschoss. Den Kindern zufolge ging es rüde zu, die Möbel wurden aus dem Fenster geschmissen. Bis 1947 lebte die Familie über der heutigen Volksbank in Gröditz, dann zogen sie zunächst in den Westen. Dort trafen sie auf Vater Johannes, der im gleichen Jahr aus der Gefangenschaft freikam. Nach Gröditz kehrte der ehemalige Bürgermeister nicht zurück. „Sonst wäre er vielleicht im Lager in Mühlberg gelandet“, sagt Ortschronist Namyslik.

Das lange gesuchte Antlitz von Johannes Pönitz soll nun vorerst noch geheim bleiben – bis zur offiziellen Vorstellung der neuen Stadtchronik im März 2017.