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Spitzel am Ball

Spieler, Funktionäre und Fans der BSG Stahl Riesa standen stets unter Kontrolle der Stasi. Ein IM kam der Mannschaft ganz nah.

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Von Jens Ostrowski

Fußball ist für Stasi-Minister Erich Mielke eine Herzensangelegenheit. Gegen seinen Lieblingsclub BFC Dynamo dauert die Nachspielzeit gerne mal etwas länger, wenn der DDR-Rekordmeister nach 90 Minuten hinten liegt. Umstrittene Schiedsrichter-Entscheidungen für die Berliner gehören zum Alltag. Am Ende gewinnt fast immer Dynamo. Und die Stasi hat nicht selten ihre Hände im Spiel.

Aber auch offiziell war der Geheimdienst im Stadion, wie diese Arbeitskarte zeigt.
Aber auch offiziell war der Geheimdienst im Stadion, wie diese Arbeitskarte zeigt.

Das gilt ohnehin für alle Vereine in den oberen DDR-Ligen. Auch bei der BSG Stahl Riesa sind die Spitzel wachsam: im Stadion, beim Training, selbst in der Kabine hört der Geheimdienst mit. Denn die Angst vor regimekritischen Parolen – besonders bei internationalen Spielen – und vor flüchtenden Talenten ist groß. Davon zeugt der „Maßnahmeplan zur politisch-operativen Sicherung von Fußballspielen der Oberliga (BSG Stahl Riesa)“ vom 21. August 1985. Darin gibt Riesas Stasi-Chef Siegfried Winkler detaillierte Anweisungen zur Absicherung der BSG-Spiele.

Schwerpunkte bilden Personen, die „mit Handlungen und Kontaktaufnahmen ihre Übersiedlung erzwingen wollen“, die gewillt sind „unter dem Schutz der Anonymität der Masse die eigene negative und ablehnende Haltung und Einstellung“ darzustellen. Abgesehen haben es die Spitzel auf Symbole, Transparente, Fahnen und Flugzettel mit „feindlich-negativem oder solchem Inhalt, die nicht dem Charakter des sozialistischen Staats entsprechen“.

Inoffizielle Mitarbeiter werden nicht nur in die Zuschauerränge geschickt, die Stasi unterwandert mit ihnen auch Fanclubs und Ordner. Besonders der Fanclub „Sachsenland“ ist von Spitzeln durchdrungen. Der Verein muss der Stasi dafür regelmäßig aktualisierte Listen von Fanclubs, deren Leitern und Mitgliedern vorlegen. Das geht aus den Akten hervor. Von den einhundert zu den Heimspielen im Ernst-Grube-Stadion geforderten Ordnern durchleuchtet die Stasi jeden einzelnen. „Bei negativen Hinweisen werden diese Personen nicht bestätigt“, ordnet Winkler an.

Die Sicherungseinsätze zu den einzelnen Spielen werden nach Kategorien angeordnet. „Spiele mit besonderer politisch-operativer Bedeutung“ stehen ganz oben, dazu zählen Begegnungen mit Westvereinen, wie Ende der 80er Jahre gegen Rot-Weiß Essen. Dann überlässt die Staatssicherheit auch gar nichts dem Zufall. Als erster Westverein spielte Rot-Weiß Essen im Grube-Stadion. „Meine Sprechertexte wurden mir weggenommen und umgeschrieben“, erinnert sich der damalige Stadionsprecher Manfred Dönicke. „Das Spiel wurde als Politikum genutzt.“ Zudem hat er gehört, dass die Spieler beider Mannschaften bei einem gemeinsamen Essen in Diesbar-Seußlitz strikt getrennt wurden. „Die Stasi wollte nicht, dass sich die Stahl-Spieler mit den Wessis austauschen.“

Oben im Sprecherturm des Grube-Stadions gibt es einen Raum, den die Stasi zu den Spielen nutzt. „Die saßen neben uns und hatten eine Standleitung zu Erich Mielke. Der wollte vor allem dann genau informiert werden, wenn das Spiel Einfluss auf seinen geliebten BFC Dynamo nahm. Da wurde am grünen Tisch auch schon mal ein Sieg für Mielkes Lieblingsclub ausgehandelt“, sagt Dönicke.

Die Kicker der BSG stehen unter ständiger Beobachtung. Einer der wichtigsten Inoffiziellen Mitarbeiter ist der langjährige Mannschaftsleiter, der bereits seit 1959 als „IM Ball“ mit der Stasi kooperiert. Der Spitzel, der im Rohrwerk II arbeitet und für seine Tätigkeit als Mannschaftsleiter freigestellt wird, erhält die Aufträge von seinem Führungsoffizier über den Postkasten 21 im Stahlwerk. „Da er jetzt durch seine Tätigkeit als Mannschaftsbetreuer einen sehr guten Kontakt zu allen Spielern besitzt“, ist seine Aufgabe die Absicherung der ersten Mannschaft, über die er regelmäßig Stimmungsberichte liefern soll. „Der IM leistet gute inoffizielle Arbeit und ist von der Zusammenarbeit bewusst überzeugt“, heißt es in den Akten.

Und der Spitzel wird seiner Aufgabe gerecht. 1972 resümiert die Stasi: „Die bisherige Berichterstattung belief sich auf Probleme der BSG Stahl Riesa, und er berichtete hierzu ohne Ansehen der Person über uns interessierende Personen.“ Und: „Es kann festgestellt werden, dass der IM ehrlich und zuverlässig ist.“

Am 28. April 1972 berichtet er „über Spieler, die eng befreundet sind“. Am 26. September teilt er der Stasi mit: Da die beiden Spieler X und Y „wissen, dass sie zur NVA müssen, nehmen sie das Training nicht mehr ernst“. Über ein Blitzturnier in der Volksrepublik Polen berichtet er auf sechs Seiten.

Als die BSG 1987 im Abstiegskampf steckt, hält IM Ball die Stasi über die internen Diskussionen im Team auf dem Laufenden: Er zählt fünf Spieler auf, die dem Verein wohl den Rücken kehren wollen. „Von diesen Personen gab es schon vor längerer Zeit Meinungen, dass sie Riesa verlassen wollen, wenn sich etwas Besseres bietet.“ Diese Informationen lösen mehrere Operative Vorgänge gegen Spieler aus. Aber auch im privaten Bereich spitzelt IM Ball – neben Fußballern zählen Nachbarn und selbst der Schwiegersohn zu den Opfern. Und die Stasi ist zufrieden: 1979 bedankt sich das Ministerium für Staatssicherheit für die 20-jährige Treue. Als Anerkennung gibt es 300 Mark Prämie.

Obwohl sie im selben Wettbewerb mit den Betriebssportgemeinschaften stehen, werden die großen Clubs wie Dynamo Berlin oder Dynamo Dresden von Staat und Fußballverband bevorzugt. Funktionäre und Staatssicherheit lenken so gute Talente von den BSGs zu den Clubs. Ein 16-jähriger Riesaer Juniorenauswahlspieler wird 1971 gezwungen, zu Dynamo Dresden zu wechseln – als er aus privaten Gründen ein Jahr später rückkehren will, wird er für den Leistungssport gesperrt.

Vor zwei Jahren ist IM Ball gestorben. Seine Tochter sagt: „Kurz vor seinem Tod habe ich lange mit ihm über seine Tätigkeit beim MfS gesprochen. Er wurde dazu gezwungen. Sie haben ihn mehrmals unter Druck gesetzt, er hat abgelehnt. Schließlich haben sie ihm bei einem Freundschaftsspiel im Ausland unwissentlich Devisen in den Mannschaftskoffer gelegt, ihn den Koffer an der Grenze öffnen lassen und ihn damit erpresst, entweder er geht ins Gefängnis, verliert seinen Job oder er arbeitet für sie.“ Er habe ihr erzählt, wie schrecklich der Druck für ihn all die Jahre gewesen sei, wie er gelitten habe und dass er mehrmals aussteigen wollte, was aber Repressalien nach sich gezogen hätte. Er habe bis zu seinem Tod bereut nicht mutiger gewesen zu sein, erzählt die Tochter.

Diese Geschichte hat er unter anderem auch Manfred Dönicke erzählt. Fakt ist: Die Akten offenbaren, dass IM Ball bereits 1959 – viele Jahre vor dieser angeblichen Ungarnfahrt – seine Verpflichtungserklärung unterzeichnet hat.

Den nächsten Teil unserer Serie „Die Stasi vor unserer Tür“ lesen Sie in der morgigen Ausgabe der Sächsischen Zeitung Riesa.