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„Spätwirkungen nicht zu befürchten“

Amtsarzt Dr. med. Christoph Ziesch sucht mit anderen nach den Schadstoffursachen für die Oberschule in Niesky.

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© Pawel Sosnowski

Niesky. Die Herbstferien sind vorbei, aber die Unsicherheit wegen der Schadstoffe in Nieskys Oberschule noch immer groß. Die Stadt hat den Anbau samt Fachkabinetten komplett gesperrt. Doch wie gefährlich ist das gemessene Formaldehyd wirklich? Amtsarzt Dr. med. Christoph Ziesch beantwortet in Abstimmung mit dem Gesundheitsamt und der Landesuntersuchungsanstalt, welche die Luftraummessungen durchgeführt hat, drängende Fragen.

Geräumig, aber gesperrt – in den Fachkabinetten der Oberschule Niesky findet kein Unterricht statt. Stattdessen wird nach möglichen Schadstoffen gesucht.
Geräumig, aber gesperrt – in den Fachkabinetten der Oberschule Niesky findet kein Unterricht statt. Stattdessen wird nach möglichen Schadstoffen gesucht. © André Schulze

Herr Ziesch, Formaldehyd soll das Risiko für Tumore im Nasen-Rachen-Raum erhöhen. Wie hoch ist die Gefahr, dass Oberschüler in Niesky durch zu hohe Formaldehyd-Werte krank werden?

Das Formaldehyd-Konzentrationsniveau für solche Gesundheitsschäden wie Tumore im Nasen-Rachen-Raum wurde in der Oberschule Niesky zu keinem Zeitpunkt erreicht oder gemessen. Auch nicht zu Beginn unserer Messungen im Juni 2015.

Der Anbau der Oberschule ist gesperrt worden. Es muss also Risiken geben.

Die Formaldehyd-Konzentrationen, denen Lehrer und Schüler an der Oberschule Niesky ausgesetzt waren, bewegten sich vor allem im Juni 2015 auf einem Niveau, bei denen erste geruchliche Wirkungen und damit im Zusammenhang stehende Befindlichkeitsstörungen und reversible Symptome wie etwa Kopfschmerzen oder leichte Schleimhautreizungen bei Einzelnen wahrgenommen werden können. Entscheidend ist hierbei, dass sich diese Wirkungen sämtlich wieder zurückbilden, sobald die Betroffenen die Räume verlassen. Spätwirkungen wie Tumore sind als Folge aber nicht zu befürchten.

Die Messwerte in den Räumen schwankten. Die Stadt vermutet einen Zusammenhang mit den Wetterbedingungen. Wie plausibel ist das?

Alle von Juni 2015 bis Januar 2016 in der Oberschule gemessenen Formaldehydkonzentrationen haben kontinuierlich abgenommen. Erst Anfang August 2016, kurz vor Beginn des neuen Schuljahres, wurden unter extremen sommerlichen Bedingungen, also bei hoher Temperatur und Luftfeuchte erstmals wieder moderate Richtwertüberschreitungen gemessen. Die Formaldehydfreisetzung aus einem Material oder Baustoff kann bei erhöhten Umgebungstemperaturen und Umgebungsluftfeuchten forciert werden. Die Annahme eines maßgeblichen Einflusses der jahreszeitlichen Bedingungen kann nach Lage der Dinge als plausibel gelten.

In Niesky sind 2015 an 26 Tagen die Ozon-Zielwerte überschritten worden, also öfter als in Leipzig oder Dresden. Gibt es in der Stadt möglicherweise besondere klimatische Bedingungen?

Einen Zusammenhang mit lokalen oder regionalen Schwankungen von Luftschadstoffen halten wir für unwahrscheinlich. Maßgeblich für das Forcieren der Formaldehydemissionen sind die das Baumaterial umgebenden Temperaturen und Luftfeuchten, das heißt den Faktoren Wetter und Klima kommt gegenüber anderen Schwankungen, wie etwa lokale Luftschadstoffschwankungen, ein dominanter Einfluss zu. Entscheidend ist das Aufheizen des Gebäudes während längerer Hitzeperioden. Auch waren zum jeweiligen Messzeitpunkt die Fenster für mindestens acht Stunden geschlossen, weshalb ein relevanter Außenlufteinfluss nicht möglich war.

Sind Ihnen vergleichbare Fälle wie der an der Nieskyer Oberschule bekannt?

Das Phänomen ansteigender Formaldehydraumluftkonzentrationen in den Sommermonaten wurde in Zeiten, als das Formaldehyd noch der „Hauptschadstoff“ im Innenraum war, öfter beobachtet. Die Formaldehydprobleme in Innenräumen haben seit den 90er Jahren deutlich abgenommen und treten heute nur noch als „Einzelfälle“ in Erscheinung. In Fachkreisen wird über ähnliche Fälle gelegentlich – in letzter Zeit wieder zunehmend – berichtet. Von der Landesuntersuchungsanstalt Sachsen wurde in den letzten fünf Jahren kein vergleichbarer Fall bearbeitet.

Wenn Eltern unsicher sind, ob sie ihr Kind weiter an die Nieskyer Oberschule schicken sollen – wie lautet Ihr Rat?

Meine Empfehlung als Amtsarzt in Übereinstimmung mit der Landesuntersuchungsanstalt lautet, dass Raumluftverhältnisse erreicht werden müssen, welche die Einhaltung des vom Bundesamt für Risikobewertung empfohlenen gesundheitsbegründeten Richtwertes (BfR) dauerhaft sicher gewährleisten. Entsprechend einer Mitteilung des BfR ist nicht jede vorübergehende geringfügige Überschreitung des Richtwertes unmittelbar mit einer Gesundheitsbeeinträchtigung gleichzusetzen.

Ab wann können die Fachkabinette wieder bedenkenlos genutzt werden?

Der Richtwert sollte nach Aussagen des BfR nicht öfter deutlich überschritten werden. Auf einer Beratung am 27. September im Beisein des Gesundheitsamtes, des zuständigen Bauamtes, der Landesuntersuchungsanstalt und des Direktorats der Oberschule wurde jedoch vereinbart, dass mögliche Unsicherheiten nicht zulasten der Lehrer und Schüler gehen sollten und dem Problem mittels einschneidender Maßnahmen nochmals auf den Grund gegangen werden soll. Angestrebt wird, die Ursachen für die vorliegenden Schadstoffprobleme zu finden, um dann eine nachhaltig hygienisch- und gesundheitskonforme Raumluftsituation sicherzustellen.

Allergien nehmen in Deutschland zu. Haben Luftschadstoffe darauf möglicherweise einen Einfluss?

Im Zunehmen begriffen sind zweifellos Allergien gegen Pollen, Milben oder Nahrungsmittel. Die Hauptursachen für die steigende Häufigkeit solcher Erkrankungen wird in den sich verändernden Mensch-Umwelt-Interaktionen des menschlichen Immunsystems mit unserer „mikrobiologischen“ Umwelt gesehen. Luftschadstoffe wirken zwar mit in diese veränderten Beziehungen hinein, sie spielen aber – darüber besteht in medizinischen Fachkreisen inzwischen weitgehend Konsens – eine untergeordnete Rolle. Der Zusammenhang mit Innenraumluftschadstoffen ist nur wenig erforscht.

Aber es gibt allergische Reaktionen auf Formaldehyd. Und die Weltgesundheitsorganisation warnt vor dem Stoff.

Formaldehyd ist ein potentes Kontaktallergen. Das Auslösen von Allergien über die Luft ist aber umstritten. Auch sind die entsprechenden Sensibilisierungsraten in den letzten Jahrzehnten ständig rückläufig gewesen. Insgesamt ist man derzeit nicht mehr der Meinung, dass das Einatmen von Formaldehyd einen bedeutenden oder klinisch relevanten Auslöser für Allergien darstellt. Auch die krebserzeugende Wirkung von Formaldehyd ist an die Langzeiteinwirkung von sehr hohen Formaldehydkonzentrationen gebunden. Sie müssten mindestens zehnfach so hoch sein wie die an der Oberschule Niesky gemessenen Konzentrationen.

Die Fragen stellte: Alexander Kempf