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Skelette über Skelette

Die Grabungen an der Görlitzer Frauenkirche gehen jetzt tiefer als zuvor. Dort liegen die Knochen in drei Lagen übereinander.

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© Pawel Sosnowski

Von Ingo Kramer

Görlitz. Zum Feierabend reisen die Skelette nach Dresden. „Wir können sie ja nicht über Nacht hier draußen liegen lassen“, sagt Nicole Eichhorn. Zu groß wäre die Gefahr, dass nachts jemand auf das Grabungsfeld klettert und die Funde des Tages beschädigt oder gar komplett mitnimmt. „In Görlitz ist so etwas bisher zum Glück noch nicht vorgekommen“, sagt die 36-jährige Leipzigerin. Sie arbeitet für das Sächsische Landesamt für Archäologie bei den Grabungen an der Görlitzer Frauenkirche. Hier befand sich zwischen Mitte des 14. und Mitte des 19. Jahrhunderts ein Friedhof.

Sie stammen vom alten Friedhof, der von Mitte des 14. bis Mitte des 19. Jahrhunderts genutzt wurde.
Sie stammen vom alten Friedhof, der von Mitte des 14. bis Mitte des 19. Jahrhunderts genutzt wurde. © Pawel Sosnowski

Weil bei der geplanten Umgestaltung der Flächen zwischen Post und Frauenkirche Tiefbauarbeiten anstehen, haben die Archäologen jetzt fünf Monate Zeit, den einstigen Friedhof zu untersuchen und alle Funde zu bergen. Zuerst gruben sie in Tiefen bis maximal 90 Zentimeter. Die Ergebnisse waren – zumindest aus Laiensicht – nicht besonders spannend. Nicole Eichhorn sieht das etwas anders. Sie findet ihre Tätigkeit immer spannend. Nur sind die Funde mal zahlreicher und mal weniger.

Inzwischen hat an der Frauenkirche ein neuer Bauabschnitt begonnen. Die Tiefbaufirma will einen Regenwasserkanal quer über den einstigen Friedhof verlegen. Da, wo er verlaufen soll, graben die Archäologen nun bis zu 120 Zentimeter unter Straßenniveau. Das ist die Tiefe, in der es mehr zu entdecken gibt. „Auf den ersten sechseinhalb Quadratmetern haben wir schon sechs Bestattungen entdeckt“, sagt Nicole Eichhorn. Sie zeigt auf Skelette über Skelette, im wahrsten Sinne des Wortes: „Sie liegen nicht nur dicht nebeneinander, sondern auch in drei Lagen übereinander.“ Das liegt daran, dass der Friedhof so lange in Benutzung war: „Er ist ziemlich voll.“

Für den Regenwasserkanal müssen insgesamt 130 Quadratmeter Grundfläche ausgehoben werden. So hat Nicole Eichhorn schon überschlagen, dass sie, wenn es so weitergeht wie auf den ersten sechseinhalb Quadratmetern, wohl über 100 Bestattungen finden wird. Das würde auch Thomas Westphalen nicht verwundern. Er ist Abteilungsleiter im Sächsischen Landesamt für Archäologie und war erst diese Woche wieder in Görlitz. Er berichtet, dass es vor 20 Jahren, als nebenan das alte Café Posteck dem neuen C&A weichen musste, auch schon Grabungen gab. 70 oder 80 Skelette wurden damals geborgen und ebenfalls mit nach Dresden genommen. „Bis Oktober könnten es 200 sein“, sagt er – beide Grabungen zusammengenommen.

Alle Funde werden ins Archäologische Archiv Sachsen in Dresden-Klotzsche gebracht. Die Skelette werden in Kartons gepackt und dann eingelagert – ganzjährig bei 17 Grad Celsius und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit. Aber ist das Lager nicht irgendwann voll? „Nein“, sagt Westphalen: „Immer wenn wir an Kapazitätsgrenzen stoßen, erweitern wir uns.“ Es sind schon Tausende Skelette da. Allein bei den Grabungen am Dresdner Neumarkt seien mehr als 1 000 geborgen worden.

Die Görlitzer Skelette werden jetzt nicht näher untersucht. „Ziel ist eine systematische Bergung, um sich alle weiteren Schritte für die Zukunft offen zu halten“, sagt Westphalen. Alter und Geschlecht der Verstorbenen ließen sich recht einfach herausfinden. Experten könnten aber auch Hinweise auf Krankheiten, Ernährung und Lebensumstände ermitteln. Sogar ein Vergleich zum Beispiel zwischen Görlitzer und Leipziger Skeletten wäre im Rahmen eines Forschungsprojektes möglich. Aber all das ist momentan nicht geplant.

Neben Knochen ist an der Frauenkirche noch mehr zum Vorschein gekommen. Ein Skelett trug um den Hals eine Kette aus Glanzkohle-Steinen. Auch Fragmente einer Totenkrone waren dabei, Sargumrisse an Stellen, an denen das Holz verrottet ist, zwei vermutlich leere Grüfte und gotische Bauwerksteile, bei denen sich vermuten lässt, dass sie wohl eher von der Kirche stammen und nicht von Grüften. Sie alle werden baugeschichtlich aufgenommen.

Wirklich ungewöhnlich ist keiner von diesen Funden. „Es ist genau das, womit wir gerechnet hatten“, sagt Westphalen. Wenn man tiefer grabe, habe man mehr zu tun. Und entsprechend mehr einzupacken, wenn Feierabend ist. Die Skelette in diesem Zeitungsartikel jedenfalls sind gleich nach dem SZ-Fototermin nach Dresden abgereist. Ein Umzug für immer muss das nicht sein: Für eine Ausstellung kann auch mal ein Skelett nach Görlitz zurückkehren.