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Sie nennen ihn Schlaubi

Jonas Hector ist der Elfmeter-Held, aber kaum einer kennt den etwas anderen Nationalspieler.

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© Reuters

Von Gregor Derichs

Aus der Kabine der deutschen Nationalspieler kommt er immer als Erster. Aber Jonas Hector kann es auch als Letzter. In Bordeaux war er es, der im spannendsten und längsten Elfmeterschießen der deutschen Länderspielgeschichte den entscheidenden Schuss zum Viertelfinalsieg gegen Italien setzte. Den bis dato letzten Elfer, gestand er, habe er in der Jugend geschossen, trotzdem schritt er mit „konstant hohem Puls“ zum Punkt. „Man muss das Herz in die Hand nehmen und antreten“, meinte der 26-Jährige.

Er überwand Gianluigi Buffon zum 6:5-Erfolg im Elfmeterschießen, eiskalt und genau geplant, unten rechts. „Hec-Tor, wir danken dir“, schrieb Fehlschütze Thomas Müller erleichtert über das Nachrichtennetzwerk Twitter. Plötzlich steht er im Rampenlicht. Aber wer ist eigentlich dieser Jonas Hector?

Es wirkt fast witzig, dass er 2009 mit seinen Freunden das Fanclub-Turnier der Nationalmannschaft gewann. Nun bejubeln ihn die Fans, worüber er sich wundert. „Jedes Länderspiel ist speziell. Ich glaube nicht, dass ein Spiel für Deutschland für mich jemals Normalität wird“, sagt Hector. Ob er mit seinem Elfmeterschuss Geschichte geschrieben hat, wird er am frühen Montagmorgen vor dem Rückflug von Bordeaux nach Evian gefragt. „Das weiß ich nicht. Ich war noch nie in der Situation.“

Der Junge aus dem Saarland

Am 14. November 2014 in Kaiserslautern beim 4:0 gegen Gibraltar gab er sein Debüt im DFB-Team – nach nur elf Bundesliga-Einsätzen. Internationale Wettbewerbsspiele hatte er vorher noch nie bestritten. Seit Januar 2015 hat dann aber auch kein anderer der 33 eingesetzten Nationalspieler mehr Einsatzminuten als er gesammelt.

Hector ist der Junge aus der 2 500-Seelen-Gemeinde Auersmacher im Saarland. Das Einzigartige an dem 26-Jährigen ist seine sportliche Laufbahn. Er war nie in einem Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) eines Bundesligisten, auch keinen einzigen Einsatz in einer Junioren-Auswahl des DFB kann er aufweisen. Hector spielte bis zum 20. Lebensjahr beim SV Auersmacher in der vierten Liga, dort, wo seine Mutter Monika im Jugendausschuss sitzt, Vater Erhard die Jugendteams betreut, sein älterer Bruder Lucas noch immer in der Landesliga spielt und sein Onkel Dieter die Vereinszeitschrift SportEcho macht.

Noch mit 18 konnte sich Hector nicht vorstellen, Fußball-Profi zu werden, ein Angebot des VfL Bochum lehnte er ab und blieb bei seinem Heimatverein. Erst 2010 kam er dann über ein Probetraining bei der zweiten Mannschaft von Bayern München zum 1. FC Köln, wo er zwei Jahre bei den Amateuren in der Regionalliga kickte. Seine erste Chance bei den Profis erhielt er im August 2012 im DFB-Pokal – damals noch im offensiven Mittelfeld –, fortan durfte er auch in der zweiten Liga ran, gehörte zu den Stammkräften beim Wiederaufstieg. „Schlaubi“ nennen ihn die Mitspieler im Klub gern, und auch in der Nationalmannschaft ist er schon öfter so bezeichnet worden. Den Spitznamen erfand Kölns Ersatzkeeper Thomas Kessler, weil Jonas wegen seiner Brille eine Ähnlichkeit mit dem Schlaubi-Schlumpf haben soll. Hector ist der Student unter den Weltmeistern. Wirtschaft an der Rheinischen Fachhochschule studiert er.

Seit er das DFB-Trikot trägt, hat sein Leben an Fahrt aufgenommen, es wurde noch aufregender. „Es ging schon sehr flott in den vergangenen zwei Jahren“, sagt er. Die WM 2014 verfolgte er noch zu Hause mit Freunden im Saarland, das Finale im Kölner Trainingslager in Österreich. Bundestrainer Joachim Löw kam irgendwann bei seiner Fahndung, den chronischen Mangel auf den Außenverteidigerpositionen zu beheben, nicht mehr an ihm vorbei. Und während Hector mit seinen stabilen Leistungen bei der EM weiter auf sich aufmerksam macht, versucht sein Berater, einen lukrativen Wechsel einzufädeln. Jürgen Klopp soll interessiert sein, ihn zum FC Liverpool zu holen, also zu dem Klub, bei dem er anfangen würde, sich Gedanken zu machen. Das hatte Hector im März jedenfalls zu seinen Karriereplänen gesagt. Sein Vertrag beim FC läuft bis 2018 – ohne Ausstiegsklausel. Es wird über eine Ablösesumme von 15 Millionen Euro spekuliert.

Fußball mit den Freunden

Trotz seines explodierten Marktwertes ist Hector auch nach 19 Länderspielen bodenständig geblieben. Seine Freunde und Familie in Auersmacher besucht er regelmäßig, spielt mit ihnen Fußball, wobei sie sich ihm gegenüber in den Zweikämpfen zurückhalten müssen. Mit seinem früheren Vereinstrainer Jörn Birster tauscht er über Facebook und WhatsApp Nachrichten aus. Der Papa und Freunde saßen in Bordeaux auf der Tribüne, seine Freundin Annika hat ihn am freien Samstag in Evian besucht. Hector sieht es als Vorteil an, dass er erst spät Profi wurde. „Wenn man früh in ein NLZ kommt, richtet man das Leben komplett auf den Fußball aus. Bei mir lief es anders. Ich musste mich nach dem Abi umgucken, was ich mache. Damals gab es auch noch den Wehrdienst. Das heißt, ich musste ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, was ich beim SV Auersmacher abgeleistet habe.“

Dabei habe er überlegt, was er machen wollte, eventuell ein Studium oder einen Job. „Ich hätte wohl Sport studiert. Wahrscheinlich auch im Saarland, da wäre ich wohl nicht rausgekommen.“ Der Fußball sei „zum Glück“ dazwischengekommen. Nun ist er in Frankreich, mittendrin statt nur als Fan dabei. Vielleicht verlängert er die Reihe der deutschen Linksverteidiger, die Europameister wurden: Paul Breitner 1972, Bernhard Dietz 1980, Christian Ziege 1996 – Hector 2016. Es wäre schön, wenn es so käme, sagt er. „Aber bis dahin ist der Weg noch weit.“ (mit dpa, SZ)