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Seit 37 Jahren ein Auge aufeinander

Die Bewohner der Waldheimer Bahnhofstraße 77 sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Eine Havarie war Schuld.

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© Dietmar Thomas

Von Natasha G. Allner

Waldheim. Die Waldheimer Wohnungsbau- und Verwaltungsgesellschaft mbH begeht in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen. Mit ihr feiern auch die Bewohner der Bahnhofstraße Nummer 77. Die Hausgemeinschaft hat aber weit mehr als ein Vierteljahrhundert auf den Schultern und besteht größtenteils noch aus den Mietern, die hier vor 37 Jahren Umzugskartons schleppten.

Die Hausgemeinschaft der Waldheimer Bahnhofstraße 77 ist seit 37 Jahren besonders „dicke“ miteinander: Nachbarschaftshilfe gehört genauso dazu, wie gemeinsames Feiern. Hier beim 25-jährigen Bestehen.
Die Hausgemeinschaft der Waldheimer Bahnhofstraße 77 ist seit 37 Jahren besonders „dicke“ miteinander: Nachbarschaftshilfe gehört genauso dazu, wie gemeinsames Feiern. Hier beim 25-jährigen Bestehen. © Repro: privat

Lange Zeit sehnte sich Familie Bodack mit ihren zwei kleinen Kindern, man zwängte sich auf 36 Quadratmetern Wohnraum zusammen, nach einem neuen Zuhause: Am 17. September 1978 zog sie als Erste in die Bahnhofstraße Eingang Nummer 77 ein. Den gesamten Wohnblock verwaltete damals die Gebäudewirtschaft Waldheim-Hartha. Zeitnah folgten die Neumieter Familie Gessner, Vogt, Heide, Gottlebe, Mehnert und Hofmann nach. Den Bau des Wohnblocks hatten Firmen wie Florena, die Elmo- und Klappstuhlwerke oder auch die Spindelfabrik gesponsert. Und doch legten die zukünftigen Bewohner selbst Hand an. „Vermutlich sind 200 bis 250 Stunden pro Familie zusammengekommen. Wir übernahmen Schacht- und Transportarbeiten“, erinnert sich Karl-Heinz Bodack. Ehefrau Gudrun ergänzt: „In dem verdammt harten Winter 1977/78 sorgten Wärme-Gebläse dafür, dass überhaupt gearbeitet werden konnte.“ Wie die Mieter erzählen, sei das Gebäude aus unterschiedlichsten Materialien „zusammengebastelt“. Manchmal habe man Steine für andere Baustellen abgezogen.

Die Zustände waren katastrophal

Der Bau-Winter war aber offenbar nur ein Vorbote des Folge-Winters: Kein Strom, Schulen und Kindereinrichtungen geschlossen, Unmengen Schnee, die zum Teil ins Haus geholt und aufgetaut wurden. Die Zustände waren katastrophal. „Es gab ja kein Wasser“, so Gudrun Bodack. Zu allem Übel ereignete sich eine Havarie im Keller, die Schleuse war verstopft, im Haus stank es beträchtlich. Weihnachten drohte ins Wasser zu fallen. Karl-Heinz Bodack, seines Zeichens Klempner, und weitere Männer packten an. Jemand besorgte eine Schlammrute (Spirale zur Reinigung des Rohres): „Problem gelöst.“ Dreckig, wie sie waren, kamen die Männer im Hausflur zusammen. Die Frauen trugen Glühwein, Kartoffelsalat und anderes Naschwerk auf. Man saß auf der Treppe, feierte den Heiligen Abend gemeinsam. Ein Fest, dem unzählige kleine und größere anlässlich runder Geburtstage, Silberner und Goldener Hochzeiten, dem 25. und 35. Bestehen der Gemeinschaft folgten. Die „schlimme Sache“ aber war die Geburtsstunde einer dauerhaften Freundschaft mit sorgsamem Umgang untereinander. „Das ist die eine Anekdote, welche ich ewig erzählen werde“, betont Gudrun Bodack.

Seit dieser Zeit wurden per „Nachbarschaftshilfe“ gegenseitig Blumen gegossen, Briefkästen geleert, die Hausordnung abgenommen, achteten „wachsame Nachbarn“ darauf, dass auch mal ein Schlüssel an der Tür stecken bleiben konnte. Steffi Scheffler (geborene Gottlebe) verschwand alle Jahre wieder im Weihnachtsmannkostüm. Jeweils am 1. Mai wurde das „rote Haus“ bis zur politischen Wende hin mit selbstgebauter Dekoration inklusive Fahnenstangen und Lichterketten in Szene gesetzt. „Rotes Haus nannte man uns, weil wir alle SED-Mitglieder waren, aber nicht von der schlimmen Sorte. Wir hatten Spaß, unseren Eingang gemeinsam herauszuputzen“, erzählt Bärbel Vogt, deren Mann zu dieser Zeit als Elektriker arbeitete und zahlreiche Gestaltungsideen beisteuerte. Die Gemeinschaft legte sich auch eine kleine Wäscherolle zu. Per „Kasse des Vertrauens“ wurden neue Auflagetücher angeschafft. Wäscheplatz und -leine nutzte man ebenso zusammen. Alles funktionierte per Absprachen. Das gute Zusammenleben möchte heute keiner missen. Obwohl sich mit der Zeit vieles verändert habe: Kinder sind aus dem Haus, manch ein Mitglied der Gemeinschaft weggezogen oder verstorben. Das hält die eingeschworene Truppe aber nicht davon ab, das Fest zum 40-jährigen Bestehen der Hausgemeinschaft im Jahr 2018 zumindest im Hinterkopf zu haben. „Wie üblich beteiligen sich alle. Jeder wird etwas beitragen: Dekoration, Grillzeug, Getränke, gute Laune“, so Gudrun Bodack.