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Schwerstarbeit für die Leichtigkeit

An der Palucca-Hochschule schuftet Balletttalent Lea Schäfer seit sieben Jahren mehrere Stunden am Tag für ihren Traum.

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© Robert Michael

Von Michaela Widder

Der Pianist greift in die Tasten, die jungen Tänzerinnen an die Stange. Die Stimmung im lichtdurchfluteten Saal acht ist ruhig und konzentriert. Die Einzige, die spricht, ist die Lehrerin. Olga Melnikova, viele Jahre Solistin an der Semperoper, sitzt auf einem Stuhl vor ihren Schülerinnen. Sie braucht die Stimme nicht extra zu erheben, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. Wer hier auf den paar Quadratmetern vor den strengen Augen der Professorin Pirouetten dreht, für den bedeutet das Tanzen die Welt – so wie für Lea Schäfer.

Selbst in der kurzen Pause schaut Lea Schäfer, wie eine andere Tänzerin die Vorgabe umsetzt.
Selbst in der kurzen Pause schaut Lea Schäfer, wie eine andere Tänzerin die Vorgabe umsetzt. © Robert Michael

Die Siebzehnjährige, die wie die anderen fünf jungen Frauen die Haare streng zu einem Dutt hochgesteckt hat, ist in ihre Aufgabe versunken. Ihr Kopf ist leicht gerötet. Durch den hautengen Ballettanzug sieht man, wie sich jeder Muskel anspannt. Ihr schlanker Körper zittert vor Anstrengung auf den holzharten Spitzen. Es ist Schwerstarbeit und die Kunst, diese leicht aussehen zu lassen. In den kurzen Pausen ist nur tiefes Atmen zu hören. Niemand spricht. Sie trainieren seit einer Dreiviertelstunde, und eine weitere liegt vor ihnen.

Als Lea Schäfer wieder eine Verschnaufpause hat, schweift ihr Blick nicht einmal aus den bodentiefen Fenstern, ihre Augen bleiben an den anderen Tänzerinnen haften. Alles aufsaugen. Disziplin, wovon Lehrer an anderen Schulen nur träumen.

Wer jedoch an der Palucca-Hochschule in Dresden die Chance bekommt, zu lernen, der hat sein Ziel vor Augen oder zumindest den Traum im Kopf: Berufstänzer. Ohne Leidenschaft wären die Strapazen nicht zu überstehen. Auf dem Weg dahin sind Verzicht und Verschleiß ständige Begleiter. „Das harte Training bin ich seit Jahren gewöhnt“, erzählt Lea Schäfer in der Mittagspause. „Ja, manchmal muss man auch mit sich kämpfen, dass man nicht verzweifelt, wenn was nicht klappt.“

Anfangs viel Heimweh

Balletttänzer müssen ihr Leben früh auf den Beruf ausrichten. Weil die große Karriere Ende 30 meist vorbei ist. Ab der fünften Klasse nimmt die Hochschule, die 1925 von der Tänzerin Gret Palucca gegründet wurde, Talente auf. Lea Schäfer schaffte im ersten Anlauf die Aufnahmeprüfung, und plötzlich wird aus dem Hobby eine Lebenseinstellung. Tanzen über allem. Doch schwieriger als jede Schrittfolge sein konnte, war es, fast 400 Kilometer weit weg von der Familie zu sein. Ihre Eltern und die Schwester leben im hessischen Edermünde und sie, seit sie elf ist, im Internat. „Ich hatte ein Dreivierteljahr starkes Heimweh und bin fast jedes Wochenende nach Hause gefahren.“

Doch sie weiß, es ist ihre Welt. Inspiriert von einem Kinderbuch, in dem sich ein Hund im Zirkus im Ballett versucht, träumt sie davon, selbst Primaballerina zu sein. Und seit sie als Fünftklässlerin mit einer kleinen Rolle in „Hänsel und Gretel“ das erste Mal in der Semperoper aufgetreten ist, zieht es sie auf die große Bühne. Andere träumen von einem Engagement am berühmten Moskauer Bolschoitheater oder in Weltmetropolen wie Paris oder London, Lea Schäfer hofft später auf eine Stelle in Dresden. „Ich liebe die Semperoper, sie ist mir seit Kindheitstagen so vertraut.“

An der einzigen staatlichen Tanzhochschule in Deutschland gehört Lea Schäfer zu den Musterschülern. Im vorigen Jahr hat sie ihren Realschulabschluss mit 1,0 abgelegt. Seit Sommer studiert sie Tanz und wird in gut zwei Jahren mit dem Bachelor die Palucca-Hochschule verlassen. Bis dahin wird sie weiter morgens 6.30 Uhr aufstehen. An diesem Dienstag im April beginnt acht Uhr die Vorlesung Tanzkunstgeschichte, 9.45 Uhr das erste Training im Modernen Tanz, 11.45 Uhr dann im Klassischen Tanz. Nach der Mittagspause geht es 14.15 Uhr weiter mit „Pas de deux“, dem Balletttraining mit Partner. Ab 16 Uhr stehen zwei Stunden Probe für einen Auftritt im Juni auf dem Plan. Insgesamt kommt die Studentin täglich auf sieben bis acht Stunden Tanzpraxis – ein größeres Pensum, als es die meisten Profisportler absolvieren. Kraft- und Ausdauertraining nicht mal mit eingerechnet.

Über die Strapazen, die die Ausbildung mit sich bringt, spricht man kaum, weil sie einfach dazugehören. Mindestens drei Paar Spitzenschuhe zertanzt Lea Schäfer im Monat „Es gibt zwei Arten von Schmerz“, erklärt sie und nennt zuerst den, „um den man sich keine Gedanken machen muss“, wie Blasen und Schwielen an den Füßen oder blutige Zehennägel. „Wenn aber das Knie schmerzt, bekomme ich schon mal Panik und male mir die schlimmsten Sachen aus, dass ich aufhören muss.“ Eine gute Freundin, mit der sie zusammen in eine WG ziehen wollte, erlebte dieses Szenario. Sie musste ihre Karriere wegen Rückenschmerzen mit 17 beenden. „Das tut mir so leid für sie.“

Es gibt nicht viele Teenager, die schon so erwachsen durchs Leben gehen wie Lea Schäfer. Sie ist aus dem Internat in ihre erste eigene Wohnung gezogen. Demnächst bekommt sie einen Italiener als Mitbewohner. Emanuele studiert auch im ersten Semester, er ist einer von 14 Jungs. In diesem Jahrgang gibt es nur sechs Frauen, was sehr ungewöhnlich ist.

Je älter die Schüler werden, umso internationaler sind die Klassen besetzt. Die 20 Erstsemester kommen aus acht Nationen. Für die Palucca-Hochschule verlassen Jugendliche aus der ganzen Welt ihre Familien. Für den Studienalltag müssen sie theoretisch das Gebäude nicht mal mehr verlassen: Tanzsaal, Seminar- und Kraftraum, Physiotherapie, Kantine, Internat – alles unter einem Dach. Einige laufen in wattierten Thermo-Socken durchs Treppenhaus.

Wie die Anforderungen im Studium gestiegen sind, bekommt auch Lea Schäfer zu spüren. „Der Sprung war krass“, findet sie. Es sei ein gewisser Konkurrenzkampf da, aber man verstehe sich gut. Außerdem könne sie von den anderen viel lernen.

Kein Kontrollwiegen in der Schule

Dieses ständige Vergleichen, die Suche nach Perfektion birgt auch eine Gefahr. Beim Blick in den Spiegel nehmen manche Mädchen ihren Körper falsch wahr. Das Gewicht ist ein Thema, mit dem man an der Palucca-Schule behutsam umgeht. Es gibt kein regelmäßiges Kontrollwiegen, dafür einen Ernährungsberater und seit Kurzem einen Body-Wellness-Coach, der das Thema Achtsamkeit vermittelt. „Das finde ich gut“, sagt die 1,68 Meter große Tänzerin. „Und wenn man merkt, dass jemand weniger isst, versucht man mit demjenigen zu reden.“ Im Studium werden dann auch Anatomie und Tanzmedizin gelehrt. „Es ist interessant, wie der Körper funktioniert.“

Dass Lea Schäfer die wenige freie Zeit zum Erholen braucht, musste sie nicht erst lernen. Der Körper schreit nach Ruhe. Disko und Party, wie es andere Teenies für sich entdecken, fehlen ihr nicht. Sie kennt nur das Leben als Tänzerin, da sie außerhalb der Schule kaum andere Kontakte hat. Es ist eine eigene Welt, eine zwischen Leichtigkeit und Leidensfähigkeit.