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Schluss mit Hammer, Zirkel, Ährenkranz

Rolf Jäger und Holger Scheumann stellten 1990 Sachsenfahnen her. Der Verkaufsschlager nach dem Mauerfall.

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© Regina Berger

Von Carolin Menz

Rolf Jäger hat noch eine gefunden. Ganz unten in einer Kiste lag noch eine dieser Sachsenfahnen. Er hatte sie schon fast vergessen. Dabei war das doch so ein Abenteuer damals, als er sie nähen und bedrucken ließ. Die Bischofswerdaer wollten sie schwenken auf dem Altmarkt nach dem Fall der Mauer. Rolf Jäger breitet sie aus, streicht mit der Hand darüber, fährt mit dem Finger entlang der perfekten Nähte. Und schmunzelt. „Das war schon eine wilde Zeit damals“, sagt er. Und erinnert sich wieder.

Schlangen vorm Geschäft

Es war diese aufregende, diese spannende Wendezeit. Die Mauer war im November gefallen in Berlin. Im Winter gingen die Menschen auf die Straße in Bischofswerda. Sie waren mutig, wollten vieles anders in ihrem Land, wollten bleiben. Sie trafen sich immer auf dem Altmarkt, direkt vor dem Traditionsgeschäft der Jägers, das alle nur „Reste-Jäger“ nannten. Stoffe gab es hier, auch mal ganz ausgefallene. Wenn Rolf Jäger aus allen Teilen der DDR wieder welche herorganisiert hatte, standen sie Schlange bei ihm und seiner Frau.

Deshalb fragten sich Jägers wie viele auf der Straße vor ihren Schaufenstern, was denn werden würde aus ihrem Land, das so irgendwie in der Schwebe hing. „Wir waren bei den Demonstrationen nicht unmittelbar dabei, wir haben es lieber aus der Distanz unseres Ladens beobachtet“, sagt Rolf Jäger, der heute 75 Jahre alt ist. Januar und Februar 1990 gingen die Menschen vor allem auf die Straßen. Demonstrierten für eine neue DDR, für Reformen. „Es war die Zeit, als sich die Menschen besinnten, dass wir ja eigentlich Sachsen sind“, sagt Rolf Jäger.

Und plötzlich kamen sie in sein Geschäft und fragten nach weiß-grünen Fahnen. Sie sollten geschwenkt werden auf den Demonstrationen. Damals, als an eine Neugründung des Freistaates Sachsen als ein Land der vereinten Bundesrepublik noch niemand dachte. Aber als die Menschen wagten, was noch Monate früher undenkbar schien. „Erst kamen die Leute vereinzelt, doch die Nachfrage stieg dann enorm“, sagt Rolf Jäger. Der Bischofswerdaer war und ist Geschäftsmann. 1973 hatte er den Laden vom Vater übernommen, sich immer als Selbstständiger verteidigt. Was die Leute wollten, wollte er ihnen verkaufen. Es galt in dieser neuen Zeit umso mehr. „Wir haben uns also vorgenommen, Sachsenfahnen nähen zu lassen. Doch dafür brauchte es erst einmal geeigneten Stoff.“ Rolf Jäger organisierte Mengen an weißem Baumwollstoff. „Stoffe in typischem Sachsengrün aber gab es nicht“, sagt er. Noch war der Westen nicht angekommen. Noch gab’s die DDR-Mark. „Für das richtige Grün wurde der Stoff eben eingefärbt.“ Man war erfinderisch. Improvisierte. Wie so oft.

Nähen im Akkord

Bevor es ans Nähen ging, rissen Jägers die Stoffe fürs Fahnenmaß zurecht. 80 Mal 120 Meter war der Klassiker groß – später gab es noch kleinere zu kaufen. Zusammengenäht wurden die weißen und grünen Stoffbahnen von zwei Nähern. Sie arbeiteten im Akkord damals. Denn als die ersten Fahnen verkauft und gesehen worden waren, wollten alle eine. So jedenfalls empfand er das damals. „Wir haben Tausende Fahnen verkauft“, sagt Rolf Jäger. Zum echten Hit entwickelten sie sich, als sie zusätzlich mit Wappen bedruckt wurde. „Die Leute hatten uns darauf angesprochen. Und auch das wollten wir möglich machen“, sagt Rolf Jäger.

Der richtige Mann dafür war Holger Scheumann aus Bischofswerda. Er hatte Gebrauchswerber gelernt und arbeitete damals in der Werbeabteilung des Fortschritt-Werks. Parallel absolvierte er ein Fernstudium der „Kommunikationsmethodik“ in Berlin. Schon 1987/88 trug er sich mit dem Gedanken, im Bereich Werbung selbstständig zu machen. Nach dem Studienabschluss sollte es im Frühling 1990 losgehen, erste Gespräche dazu waren im damaligen Rat des Kreises schon recht erfolgreich gelaufen, wie der 60-Jährige erzählt. Er wollte die Dienstleistung Werbung anbieten. Er wusste, was er wollte.

Doch dann kam erst einmal der Großauftrag Wappen von Jägers. Man kannte sich. Holger Scheumann hatte schon hin und wieder Werbeaufträge für das Geschäft von Gudrun und Rolf Jäger erledigt. Natürlich war er dabei beim Projekt Sachsenfahnen. Er nahm Urlaub und schrubbte Nachtschichten, um Wappen im Siebdruck aufwendig herzustellen. Jedes einzeln. Schon oft hatte er Stoffe bedruckt im Rahmen seiner Arbeit.

Siebdruck im Eigenbau

„Wie das Wappen aussah, konnten wir auf Fotos in Büchern sehen. Die gab es ja“, sagt Holger Scheumann. Er gestaltete und konstruierte eine Siebdruckschablone sowie eine Siebdruckmaschine der Marke Eigenbau. „In einem Hinterhaus auf der Bautzner Straße habe ich mir gemeinsam mit Achim Horvarth eine provisorische Druckwerkstatt eingerichtet.“ Und dann legten sie los. „Alle paar Tage druckten wir ein paar 100 Wappen“, so Holger Scheumann. Viel komplizierter war das damals, als es noch keine Plotter gab, keine Computer, die das Drucken heute berechnen. „Das Wappen musste ja exakt platziert werden auf den beiden Farben der Fahne“, sagt Holger Scheumann. Und dann die Druckfarben. Sehr wenig Auswahl gab es damals im Vergleich zu heute. In einzelnen Schichten wurden sie übereinander aufgetragen. Jede von ihnen musste jeweils zwei bis drei Tage trocknen.

Viele Arbeitsschritte waren pro Wappen nötig – und eine gute Organisation für all diese in der provisorischen Werkstatt. Regelmäßig sollte ein Schwung neuer Wappen ausgeliefert werden, damit sie auf Fahnen aufgenäht und in Jägers Regalen landen konnten. „Hatten wir neue Fahnen, waren sie ruckzuck weg – auch weil sie günstig waren. Sie kosteten unter zehn Mark Ost“, so Rolf Jäger. Die Fahnen waren der Verkaufsschlager. Keinen Artikel verkauften Jägers mehr als diese handgemachten Sachsenfahnen, die sich mit der Zeit auch als beliebtes Mitbringsel derer erwiesen, die Bischofswerda längst den Rücken gen Westen gekehrt hatten, wie Gudrun Jäger sagt.

Traditionsgeschäft blieb

Rolf Jäger und Holger Scheumann haben nie ans Weggehen gedacht. Jägers hielten ihr Geschäft am Leben, doch nicht mit Stoffen. Die brauchten die Leute weniger als früher. 1992 waren sie mutig, stellten um. Sie investierten, modernisierten und vergrößerten ihr Geschäft am Altmarkt. Seitdem verkaufen sie im „Modehaus Jäger“ Kleidung für Frauen und Männer. Ein Traditionsgeschäft, an dem viele hängen. Nur wenige Schritte entfernt verkauft Rolf Jäger noch Stoffe und Decken. Aufhören wollen sie noch nicht. Holger Scheumann arbeitet bis heute in der Werbung. Er machte seinen Traum damals wahr, startete am 1. April 1990 in die Selbstständigkeit. Siebdruck bietet er heute immer noch an – heute ist Sohn Mirko der Experte dafür.