Merken

Schicksale im Minutentakt

Der Ludwigsdorfer Polizist Maik Wünsche half Flüchtlingen in Bayern. Der Einsatz wurde zur Herausforderung.

Teilen
Folgen
NEU!
© Ralph Schermann

Von Ralph Schermann

Görlitz. Pass me tum tura. Den Satz gibt es nicht in lateinischer Schrift. Nur in Arabisch. Aber er klingt so, und für Maik Wünsche wurde er zu einer meistgesagten Floskel. Der Satz stammt aus Farsi, jener persischen Sprache, die in Afghanistan gesprochen wird. Er bedeutet: kriegste wieder. Maik Wünsche sagte das jedes Mal, wenn er Bargeld in Verwahrung nahm, das Migranten aus Angst vor Diebstahl dicht an ihren Körpern versteckt hatten. Maik Wünsche half als Ludwigsdorfer Bundespolizist drei Monate lang Kollegen an der bayrisch-österreichischen Grenze. Seit dieser Woche ist er wieder zurück in der Heimat.

Wieder ist ein Bus in Deggendorf angekommen. Bundespolizisten leiten Migranten zu den Bearbeitungsstationen. Es ist eines der wenigen Fotos, für die Maik Wünsche Zeit hatte, im Dienst auf den Auslöser seiner Handykamera zu drücken.
Wieder ist ein Bus in Deggendorf angekommen. Bundespolizisten leiten Migranten zu den Bearbeitungsstationen. Es ist eines der wenigen Fotos, für die Maik Wünsche Zeit hatte, im Dienst auf den Auslöser seiner Handykamera zu drücken. © Maik Wünsche

Wie viele Asylsuchende er in jenen Monaten unter die Lupe nahm, hat er nicht gezählt. Nicht jeder musste den Farsi-Satz hören. „Manche hatten 50 Cent einstecken, andere etwas mehr, nicht wenige aber auch mal Tausende Dollar. Denn aus den Krisengebieten fliehen nicht nur Mittellose, sondern auch reiche Geschäftsleute“, erklärt Maik Wünsche. Der 39-jährige Polizeiobermeister war in Deggendorf eingesetzt. Das ist aber gar kein Dorf, sondern mit 32 000 Einwohnern eine große Stadt, die Touristen als „Tor zum Bayerischen Wald“ rühmen. Dort gibt es eine Bundespolizei-Abteilung. Abteilungen sind im Gegensatz zu Inspektionen etwas Ähnliches wie bei der Landespolizei die Bereitschaften. In der Deggendorfer Abteilung hat der Freistaat Bayern eine sogenannte Bearbeitungsstraße eingerichtet. Migranten, die über die österreichische Grenze kommen, werden im rund 60 Kilometer entfernten Passau gesammelt, mit Armbändern versehen und in solche Bearbeitungsstraßen weitergeleitet. Es gibt sie für Frauen, Kinder, Familien, und die in Deggendorf ist zuständig für 14- bis 45-jährige Männer.

„Sechs bis neun Busse kommen täglich aus Passau, also bis zu 300 Personen“, erzählt Maik Wünsche. Vor allem Menschen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. Sie werden mit Weißbrot, Käse und Bananen verpflegt, medizinisch untersucht, fotografiert und erkennungsdienstlich überprüft. Ihre Fingerabdrücke werden in europaweiten Abfragesystemen verglichen und manches mehr. Dabei helfen sogar drei Ermittler in Ludwigsdorf: Was per Computer machbar ist, wird von hier aus mit erledigt. „Eigentlich sind das ganz normale grenzpolizeiliche Aufgaben“, sagt der Obermeister und erinnert: „Die Leute sind unerlaubt über die Grenze nach Deutschland eingereist. Auch wenn oft später das Ermittlungsverfahren eingestellt wird, nimmt die Bundespolizei diese Straftaten gegen das Aufenthaltsgesetz auf.“

Nach zwei, drei Stunden in der Bearbeitungsstraße warten dann wieder die Busse auf die Ausländer, um sie in Erstaufnahmeeinrichtungen zu fahren. Erst dort geht es nicht mehr um polizeiliche, sondern asylrechtliche Aufgaben. Um bis dahin schon so viel wie möglich zu klären, leisten die Dolmetscher eine entscheidende Aufgabe. Sie sind es, die erkennen, ob Pakistani, Algerier oder sonstige Migranten sich als Afghanen ausgeben, nicht selten dafür auch falsche Papiere vorzeigen. „Die Sprachmittler erkennen Betrug schon an Dialekten oder an einfachen Fragen wie nach dem aktuellen afghanischen Schlagerstar“, berichtet der Ludwigsdorfer, der auch von den Dolmetschern profitiert. Sie notieren ihm die wichtigsten Verständigungsgrundlagen in Lautschrift. Wie „Pass me tum tura“.

In der Deggendorfer Dienststelle sind vier Dienstgruppen zu je 40 Mann rund um die Uhr mit der Bearbeitungsstraße beschäftigt. Bald war das mit den eigenen Kräften nicht mehr zu schaffen, seitdem kommt Unterstützung aus der gesamten Bundespolizei und auch vom Zoll. „Ich habe hier paar Wochen sogar mit einem Schiffskoch gearbeitet“, schmunzelt Wünsche. Das sei normal, denn die Polizei des Bundes hat viele Einheiten. Die Direktion Pirna, zuständig für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, schickt rund hundert Mitarbeiter nach Bayern. Thomas Zahlten, stellvertretender Chef der Inspektion Ludwigsdorf, bestätigt: „Aus den Dienststellen Ludwigsdorf und Ebersbach sind ständig 20 Beamtinnen und Beamte dort.“ Darunter ist auch immer ein IT-Spezialist, um Pannen im Bearbeitungssystem sofort zu beheben. Thomas Zahlten ist aber auch wichtig: „Betrachtet man die Gesamtstärke der Bundespolizei in Mitteldeutschland mit rund 3 000 Beamten, ist diese Unterstützung zwar eine Herausforderung für die Alltagsorganisation, gesetzliche Aufträge und Sicherheitsgefühl werden aber in keiner Weise beeinträchtigt.“ Die Kollegen wechseln, manche bleiben auch freiwillig länger: „Alle sind hoch motiviert.“

So wie Maik Wünsche. Der geborene Zittauer kennt Deggendorf längst. Als er nach seiner Schulzeit dort bei der Bundespolizei begann, dauerte es bis 2006, ehe er in eine Heimatinspektion kam. Nicht nur dienstlich verschlug es ihn nach Ludwigsdorf, er wohnt seitdem auch dort – mit seiner Ehefrau, ebenfalls Bundespolizistin, und den jetzt 14 und zehn Jahre alten Kindern. Die Familie hatte für seinen dreimonatigen Einsatz Verständnis, weiß, dass „für richtige Polizisten der Beruf auch Berufung ist“, wie Maik Wünsche sagt. Da die Bayern dankbar für die Hilfe sind, machen sie aber auch für die Sachsen sehr soziale Dienstpläne, gibt es nach einer Woche Elf-Stunden-Schichten auch freie Tage. Dazu gehörte auch, dass Frau und Kinder eine Woche zu Besuch kommen konnten. Im Gegensatz zu Görlitz hatte es da gerade geschneit, und die weiße Pracht blieb auch liegen – für Maik Wünsche war das ein unerwarteter Winterurlaub.

Mal zwischendurch abzuschalten, tat ihm gut. Immerhin schlaucht der Unterstützungsjob emotional stark. Nicht nur einmal hat der Polizist Dramatisches hören müssen. Etwa wie Flüchtlinge schilderten, das Ertrinken ihrer Kinder erlebt zu haben, als diese über Bord eines Bootes gingen. „Es sind unglaublich viele Einzelschicksale“, sagt Wünsche. Sogar ein angeblich 110-jähriger Flüchtling aus Afghanistan kam mal an. Der blinde und taube Greis war von acht Angehörigen einen Monat lang auf der Flucht über 6 000 Kilometer fast nur getragen worden. Als Grund für die Flucht der Vier-Generationen-Familie sagten die Begleiter, dass in ihrem Heimatort Baghlan die Taliban drei Verwandte getötet hatten.

Bei solchen Begegnungen lernte Maik Wünsche dann auch wegzustecken, dass die Bearbeitungsstraße alles mögliche, aber keinesfalls geruchsneutral ist. „Klar“, weiß er, „die Leute kommen tage- und wochenlang nicht aus den Klamotten, haben nur ihr Ziel vor Augen, selbst wenn es unterwegs mal Waschgelegenheiten gäbe“. Die Deggendorfer Abteilung stellt Duschen in der Dienstsporthalle bereit.

Wieder zu Hause, fällt Maik Wünsche auch das auf: In der Deggendorfer Bevölkerung war kaum Kritik an der Asylpolitik zu hören, im Gegenteil: „Überall spürte man auch nach Wochen voller Busse nur Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft.“ Nächste Woche nun fährt Maik Wünsche wieder Streife für die gemeinsame deutsch-polnischen Dienststelle Ludwigsdorf. Mit Farsi ist es da vorbei. Aber: „An Polnisch muss ich mich erst wieder gewöhnen.“