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Sag mir, wo die Gräber sind

Eine junge Frau aus Kamenz leistete ein freiwilliges Auslandsjahr in Holland – auf einem deutschen Soldatenfriedhof.

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© privat

Von Lissy Pudollek

Ich habe das Gefühl, von Freiwilligendiensten haben noch nicht viele Menschen gehört. Ein FSJ, das ist geläufig, aber dass man sich auch im Ausland sozial engagieren kann, weniger. Nachdem ich ein Jahr lang in den Niederlanden gelebt habe und einen Europäischen Freiwilligendienst geleistet habe, möchte ich junge Leute auf diese Möglichkeit aufmerksam machen. Denn was man in so einem Jahr alles erlebt und mit nach Hause nimmt, ist enorm. Meine Arbeitsstelle war auch für Freiwilligendienste eher eine besondere. Ich arbeitete auf dem deutschen Soldatenfriedhof Ysselsteyn in den Niederlanden und in der Jugendbegegnungsstätte, die mit Jugendgruppen Projekte zum Zweiten Weltkrieg und zu aktuellen Themen macht.

Wie kam ich darauf? Dass ich nach dem Abitur ein Jahr im Ausland verbringen wollte, war mir früh bewusst. Ich brauchte nach dem Stress der Oberstufe eine Auszeit und wollte nicht sofort studieren. Wer ins Ausland möchte, hat einige Möglichkeiten. Au-Pair oder Work & Travel sind bekannt, Freiwilligendienste weniger. Dabei bieten sie viele Vorteile (siehe Infokasten). Freiwillige werden nicht reich, aber die Kosten sind gedeckt. Eine Unterkunft wird gestellt und man erhält Verpflegungs- und Taschengeld. Ich würde sagen, man lebt wie ein Student. Reich war ich nicht, aber ich bin gut ausgekommen. Diese Rahmenbedingungen sind bei allen ähnlich. Das Gastland, die Tätigkeit und die Erfahrungen sind aber verschieden. Ob Mädchenschule in Bolivien oder Kindergarten in Schweden – für jeden ist etwas dabei. In der Regel handelt es sich um soziale Einrichtungen wie Pflegeheime, Jugendzentren, Wohngemeinschaften für Behinderte oder kirchliche Vereine. Und ich bin dabei auf einem Kriegsfriedhof in den Niederlanden gelandet. Ysselsteyn liegt abgelegen im Süden der Niederlande und ist der Einzige im Land. Er wurde 1946 angelegt und jeder deutsche Soldat, der in den Niederlanden gefallen ist, wurde dort bestattet. Auf rund 17 Hektar Fläche fanden so 31 723 Menschen ihre letzte Ruhe. 87 waren Opfer des Ersten Weltkrieges und der Rest kam im Zweiten Weltkrieg ums Leben. Für mich war der Friedhof Arbeitsplatz und Vorgarten, denn direkt daneben war meine Wohnung. Klingt gruselig, aber man darf sich weder den Friedhof noch mein Auslandsjahr als traurige Angelegenheit vorstellen. Ich habe wirklich viel erlebt. In der Jugendbegegnungsstätte, in der ich gearbeitet habe, stehen 90 Betten für Schulklassen, Vereine und Gruppen zur Verfügung, die eine Klassenfahrt mit geschichtlichem Hintergrund unternehmen. Ich habe in der Jugendherberge gewohnt und mich um die Gruppen gekümmert. Neben Zimmerputzen, Küchendienst oder Rasenmähen habe ich in erster Linie die Bildungsprojekte durchgeführt. Führungen über den Friedhof hatte ich gern, aber auch Zeitzeugengespräche, Toleranzspiele und Sprachspiele. Mein Lieblingsprojekt war das Projekt „Einzelschicksale“, bei dem die Jugendlichen Fotos, Briefe, und Tagebücher von Personen, die auf dem Friedhof liegen, ansehen und anschließend das Leben der Menschen am Grab präsentieren. Diese Informationen stellten uns Angehörige zur Verfügung. Das war sowohl für mich als auch für die Jugendlichen sehr beeindruckend, weil man so etwas nicht im Geschichtsbuch findet. Die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg hat meinen Dienst geprägt. Weil ich für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gearbeitet habe, interessierte meine Familie sich auch mehr für das Thema. Meine Mutter hat von der „Gräbersuche Online“ erfahren, und über den Volksbund den Opa meines Opas, also meinen Ururopa gefunden. Wir besuchten im Herbst zusammen sein Grab in Frankreich. Ein sehr besonderer Tag.

Viel über heutige Konflikte erfahren

In diesem Jahr kam ich mit vielen Soldaten in Kontakt, die auf dem Friedhof Arbeitseinsätze leisteten und zwei Wochen bei Mäharbeiten halfen oder Kreuze reparierten. Sie erzählten mir viel von der Bundeswehr, verschiedenen Übungen und Einsätzen und so habe ich viel über heutige Konflikte erfahren. Auch wenn ich immer noch nicht nachvollziehen kann, warum man Soldat werden möchte, habe ich enge Freundschaften mit einigen von ihnen geschlossen. Sie waren für mich auch willkommene Abwechslung zu den Jugendlichen. Nach Feierabend bin ich oft mit dem Fahrrad weggefahren, um Ruhe zu finden.

Auf dem Fahrrad erkundet man die Niederlande einfach am besten. Ich kann mit Stolz behaupten, jedes Dorf und jede Stadt im Umkreis von zehn Kilometern besucht zu haben und viermal mit dem Rad über die deutsch-niederländische Grenze gefahren zu sein. Auf meinen Touren von 40 bis 100 Kilometern habe ich eine echte Leidenschaft fürs Radfahren entwickelt. Ich kann jedem Freiwilligen empfehlen, die Zeit im Gastland zu nutzen. Ich war bei etwa 30 Windmühlen, in den berühmten Tulpenfeldern, den Delta-Sperrwerken, in Städten wie Amsterdam, Rotterdam oder Utrecht, bei Festivals und so weiter.

Ich denke zurzeit oft daran zurück. Vor gut zwei Jahren habe ich auf der Auslandsmesse der Agentur für Arbeit meine Entsende-Organisation kennengelernt. Wer sich informieren möchte, dem kann ich sie nur empfehlen. Vor anderthalb Jahren bekam ich meine Zusage und nahm sie mit gemischten Gefühlen an. Ich war etwas skeptisch, aber bereit für Abenteuer. Vor einem Jahr konnte ich gebrochenes Niederländisch. Vor einem halben Jahr war ich im Gastland integriert. Vor drei Monaten bin ich nach Hause gekommen. Das Ende dieser einzigartigen Zeit war bewegend. Ich war einerseits froh, andererseits ging ein großartiges Jahr zu Ende. Diese Erfahrungen haben mich nachhaltig beeinflusst.

Mittlerweile studiert Lissy Pudollek Internationale Beziehungen in Erfurt. Zum Volkstrauertag will sie den Soldatenfriedhof wieder besuchen. Die Autorin ist 19 Jahre alt.