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Russlands Hoffnung

Der Fußball im Riesenreich steckt tief in der Krise – und das zwei Jahre vor der Heim-WM. Ex-Dynamo Stanislaw Tschertschessow soll das ändern.

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© Weichert

Von Florian Weichert

Der Präsident ärgert sich. „Um ehrlich zu sein, wir haben seit Langem kein schönes Spiel unserer Nationalmannschaft mehr gesehen“, sagte Wladimir Putin am Wochenende bei einem Fabrikbesuch. Grund für seinen Unmut: die 1:2-Niederlage der russischen Auswahl im Freundschaftsspiel in Katar. Rund 19 Monate vor der Weltmeisterschaft im eigenen Land steckt die Sbornaja weiter im Formtief, schon bei der EM im Sommer hatte sie als Letzter der Vorrundengruppe enttäuscht.

Rechts oder links? Stanislaw Tschertschessow hatte anfangs in Dresden ein Sprachproblem und deshalb im Dynamo-Tor einige Probleme. Hier hält er den Ball trotzdem vor dem Dortmunder Michael Zorc, jetzt Sportdirektor beim BVB.
Rechts oder links? Stanislaw Tschertschessow hatte anfangs in Dresden ein Sprachproblem und deshalb im Dynamo-Tor einige Probleme. Hier hält er den Ball trotzdem vor dem Dortmunder Michael Zorc, jetzt Sportdirektor beim BVB. © Imago/Oliver Behrendt
Tschertschessow mit der Meisterschale und Stani junior, der in Dresden geboren wurde, in Innsbruck
Tschertschessow mit der Meisterschale und Stani junior, der in Dresden geboren wurde, in Innsbruck © Zoller

Trainer Leonid Slutski trat zurück, bevor er entlassen werden konnte, als sein Nachfolger wurde Stanislaw Tschertschessow bestimmt. Der 53-Jährige stand von 1993 bis 1995 bei Dynamo Dresden im Tor und bestritt für die Schwarz-Gelben 57 Partien in der Bundesliga, in legendärer Erinnerung ist sein gehaltener Elfmeter im DFB-Pokalspiel gegen Leverkusen im Dezember 1993: Pavel Hapal zielt in die Mitte – und Tschertschessow bleibt stehen.

Sein früherer Mitspieler Florian Weichert, jetzt als Reporter unter anderem für den MDR unterwegs, hat ihn in Moskau besucht – sein Erlebnisbericht:

„Hörst du, wie es schlägt, das Herz?“, fragt mich Stanislaw Tschertschessow. Er meint nicht das in seiner Brust, sondern – mit Blick auf die imposante Kulisse des Kreml – das seiner Heimat: Russland. Wir stehen auf einer Brücke über dem Fluss Moskwa, und er unterstreicht mit einer Handbewegung seine Worte. „Das russische Herz schlägt ruhig und stabil“. Auch stark?, frage ich. „Ja, auch stark!“ Seine Antwort lässt keinen Raum für Zweifel.

Wie Deutschland vor der WM 2006

„Wir müssen den Fußball in Russland revolutionieren“, meint Stani, wie er seit seiner Zeit bei Dynamo gerufen wird. Die Enttäuschung über das Abschneiden bei der Europameisterschaft müsse man wegputzen. „Weil wir nix haben, keine Mannschaft, müssen wir ein neues, schlagkräftiges Team aufbauen.“ Ein gutes Beispiel ist Deutschland, auch wenn Tschertschessow das nicht direkt vergleichen möchte. Aber nach der verkorksten EM 2004 in Portugal mit dem blamablen Ausscheiden in der Vorrunde lag auch der WM-Gastgeber von 2006 am Boden, niemand glaubte an ein „Sommermärchen“ nur zwei Jahre später.

„Pass auf, ich zeige dir was“, sagt Stani und fordert mich auf, ins Auto zu steigen. Durch den dichten Verkehr in Moskau wird der Chefcoach chauffiert. Ein Dienstwagen mit eigenem Fahrer ist bei dem unberechenbaren Verkehr in der Millionenmetropole ein nützliches Privileg. „Du weißt nie, wie lange du brauchst – 20 Minuten oder zwei Stunden“, berichtet Tschertschessow. „So kann ich ein bisschen arbeiten, telefonieren und so weiter.“

Wir sind angekommen am weltberühmten Luschniki-Stadion. Dort wird im Sommer 2018 das WM-Endspiel ausgetragen. Am liebsten wäre ihm die Paarung Deutschland – Russland. Wegen Joachim Löw. Mit dem Bundestrainer verbindet ihn ein wichtiges Erfolgserlebnis. Jogi Löw wurde als junger Trainer 2002 mit dem FC Tirol aus Innsbruck österreichischer Meister. Im Tor stand damals der nur drei Jahre jüngere Tschertschessow, und der erinnert sich gern an diese Zeit, obwohl – oder gerade weil – sie keine einfache war. „Wir haben ein halbes Jahr ohne Geld gespielt. Der Verein war pleite, aber wir wollten trotzdem Meister werden. Für mich war es der dritte Titel hintereinander, für Jogi der erste.“

Dennoch musste der FC Tirol Insolvenz anmelden. Jetzt wird mir klar, dass er sich Deutschland als Finalgegner nicht ausgesucht hatte, um mir gegenüber höflich zu sein, weil ich gerade da bin, um für die ARD und den MDR über ihn zu berichten. Wir laufen ein Stück an diesem sonnigen Novembertag und reden über Dresden, Dynamo und unsere gemeinsame Zeit bei der Sportgemeinschaft.

Beim bislang letzten Bundesliga-Heimspiel von Dynamo ging ich direkt hinter Stani auf den Platz. Gegen Bayern München war das, am 10. Juni 1995. „Ob wir gewinnen oder verlieren, war völlig egal“, sagt der starke Torwart, und er wird bei diesem Blick zurück auch heute noch traurig. Dynamo wurde durch den Zwangsabstieg bis in die Regionalliga durchgereicht; für die meisten Spieler hieß es, Abschied zu nehmen. Ein letztes Bier in der Kabine, die sich damals im Keller des Steinhauses befand, welches heute noch neben dem DDV-Stadion steht. Stani und ich saßen dicht beieinander, verstanden uns gut und haben uns nie aus den Augen verloren.

Er wohnte in einem Reihenhaus in Weißig, schaute viel deutsches Fernsehen, um die Sprache schnell zu lernen. Nur die erste Woche im Hotel war schwierig, erzählt er. „Ich konnte kein Wort Deutsch, und so habe ich jeden Abend Spaghetti bestellt. Spaghetti isst man international, das versteht jeder.“ Uwe Rösler war sein erster – sagen wir – Deutschlehrer. „Wir sind am Anfang gemeinsam zum Training gefahren, er hat mir viel beigebracht“, sagt Tschertschessow, und sein Schmunzeln verrät, dass da eine kleine Anekdote dahintersteckt, denn: „Nicht alles war richtig. Er hat sich manchmal seinen Spaß gemacht. Wenn ich dann in der Kabine etwas von dem gesagt habe, haben sich alle vor Lachen gebogen.“

Das mit der Sprache hatte Tschertschessow tatsächlich unterschätzt bei seinem Wechsel von Moskau nach Dresden. „Für einen Tormann ist es eine Katastrophe, wenn du nicht weißt, ob du rechts oder links sagst. In München oder Dortmund standen wir meist so unter Dauerdruck, dass ich durcheinander gekommen bin. Das mag komisch klingen, aber es war so.“ Stani hat eine humorig liebenswürdige Art, über die Vergangenheit zu sprechen. „Dresden werde und kann ich gar nicht vergessen, denn hier ist mein Sohn geboren. Er heißt auch Stanislaw und ist derzeit dritter Torhüter bei Dynamo Moskau.“ Die Tochter blieb in Innsbruck, studiert Architektur.

Innsbruck ist Tschertschessows zweite Heimat geworden. Dort erreichte ihn der Anruf aus dem Ministerium in Moskau. Russlands Vize-Ministerpräsident und Präsident des russischen Fußball-Verbands, Witali Mutko, wolle ihn sprechen. „Ich war gerade auf dem Weg zum Fitnesscenter, als sie mich gefragt haben, wann ich mal in Moskau bin. Ich meinte: Darf ich eine andere Frage stellen? Wann soll ich in Moskau sein? In zwei Tagen? Okay! Ich habe mich zwei Tage auf das Gespräch vorbereitet, und danach dauerte es noch mal 22 Tage, bis ich erfuhr, dass ich den Cheftrainerposten bekommen würde.“

Um seinen Stellenwert im russischen Fußball einzuschätzen, hilft ein Rundgang durch das Museum im neuen Stadion von Spartak Moskau, wo Geschichte in Hightech verpackt ist. Mit dem Verein wurde Tschertschessow dreimal Meister, einmal Pokalsieger. Und doch war Spartak bis vor zwei Jahren de facto heimatlos. „Der Arbeiterverein hatte zwar die meisten Zuschauer, aber nie ein eigenes Stadion“, erzählt Stani. „Wir haben immer woanders in Moskau gespielt, wo eben gerade ein Stadion frei war. Vielleicht waren wir deshalb so beliebt.“

Neues Stadion als positiver Effekt

Diese Zeiten sind für den Moskauer Traditionsklub vorbei. Auf dem Gelände eines ehemaligen Militärflughafens wurde für 450 Millionen ein neues Stadion gebaut. 42 000 Zuschauer passen hinein. Hier werden auch WM Spiele stattfinden. „Die WM macht vieles möglich, wir werden dann attraktive Stadien haben. Das wird dem Fußball in Russland guttun“, hofft er auf einen nachhaltig positiven Effekt.

Wir sitzen inzwischen im neu eingerichteten Büro von Stanislaw Tschertschessow im Gebäude des russischen Fußball-Verbandes, dort, wo bisher kein ausländischer Reporter hin durfte. Hell ist es, freundlich, die Couchecke neu. Darüber hängen Fotos: Stani als Double-Gewinner in Polen mit Legia Warschau, sein bislang größter Triumph als Trainer. „Als ich dort angefangen habe, hatten wir zehn Punkte Rückstand“, erklärt er die anscheinend aussichtslose Ausgangslage. „Trotzdem habe ich zu den Jungs gesagt: Es wird schwierig, aber wir werden es schaffen. Denkt an meine Worte!“

Psychologie spielt im Fußball eine wichtige Rolle. „Mir hat natürlich geholfen, dass bei meinem ersten Spiel der Spitzenreiter verlor und wir gewannen. Plötzlich waren es nur noch sieben Punkte Rückstand, und die Spieler fingen an, an ihre Chance zu glauben. Am Ende wurden wir nicht nur Meister, sondern auch Pokalsieger.“ Warum ist er trotz des Erfolges weggegangen, frage ich mich – und ihn. „Weil ich dem Präsidenten gesagt habe, wie wir nun auch in der Champions League bestehen könnten. Aber er war anderer Meinung. Dann ist es besser, man geht.“

Konsequent ist Stanislaw Salamovitsch Tschertschessow, und seine Überzeugung ist durchaus hilfreich in seinem neuen Amt. Auch wenn die ersten Spiele nicht die Ergebnisse brachten, der inzwischen etwas stämmige und kahlköpfige Russe verfolgt ein Ziel: das WM-Finale 2018. Mit Russland. Gegen Jogis Deutschland. Der Satz klingt floskelhaft, aber für Stani liegt darin der Kern der Sache: „Es wird ein langer Weg – für beide Mannschaften.“