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Ruhe nach dem Sturm

Der totgesagte Linde-Ableger in Dresden blüht wieder auf. Der Standort holt einen 590-Millionen-Auftrag für den Konzern, der ihn vor einem Jahr schließen wollte.

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© Linde AG

Von Michael Rothe

Besucher des Anlagenbauers Linde in Dresden können sich nach Anmeldung im Foyer vor zwei Bildschirmen verlustieren, bis sie vom Ansprechpartner abgeholt werden. Auf einem Monitor das Foto einer nicht bezeichneten Chemieanlage „Made in Saxony“ – und daneben läuft stumm der Nachrichtensender N24. „Sonne und Wolken wechseln sich ab“, verheißt dort der Wetterbericht auf dem Laufband.

Obwohl die Bäume vor dem Firmeneingang erst mal kahl sind, ist von Tristesse keine Spur. Im Gegenteil: Der totgesagte Linde-Ableger in Dresden blüht wieder auf.
Obwohl die Bäume vor dem Firmeneingang erst mal kahl sind, ist von Tristesse keine Spur. Im Gegenteil: Der totgesagte Linde-Ableger in Dresden blüht wieder auf. © kairospress

Für die Niederlassung des Münchner Technologieriesen waren die Aussichten nicht immer so gut. Und ihre Ankündigung alles andere als lautlos. Den heftigsten Niederschlag gab’s im November 2016, als Pläne von der Schließung der Adresse mit damals 600 Mitarbeitern bekannt wurden. Danach ein Sturm – auch der Entrüstung.

Vor genau einem Jahr hatte die SZ jene Hiobsbotschaft vermeldet. Später gab Linde auch auf politischen Druck eine Standortgarantie und den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen bis 2021 bekannt. Bedingung: die lange angestrebte Fusion des Gasespezialisten mit Praxair. Vor zwei Wochen hat der Konzern die vorletzte Hürde für die Ehe mit dem US-Konkurrenten genommen. Gut drei Viertel der Aktien waren zum Umtausch in Anteile des neuen Konzerns eingereicht worden. Damit kann die neue Linde plc. mit Sitz im irischen Dublin mit der alten AG in München einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag schließen. Es braucht nur noch die Zustimmung der Kartellbehörden, um die Fusion zum größten Industriegasekonzern mit 80 000 Mitarbeitern und 27 Milliarden Euro Jahresumsatz abzuschließen. Trotz der Standortgarantie sollen in Dresden bis zu 200 Jobs verschwinden – freiwillig.

Seit der Schreckensmeldung hat sich viel getan im Dresdner Osten. Mit neuem Chef, Umstrukturierung, weitgehender Unabhängigkeit, Großaufträgen ist bei den verbliebenen 450 Totgesagten Hoffnung eingekehrt – und Ruhe. Unter ihrer Federführung baut Linde im US-Staat Texas eine große Chemiefabrik. In La Porte bei Houston entsteht für 590 Millionen Euro eine Anlage zur Herstellung von Polypropylen, einem Kunststoff auf Erdölbasis. Aus dem Granulat werden auch Verpackungen und Behälter hergestellt. Auftraggeber ist Braskem, größter Hersteller thermoplastischer Kunstharze in Amerika. So verschaffen die Sachsen der Konzernsparte, die sie schließen wollte, den Umsatzbringer schlechthin. Sie selbst koordinieren das Projekt, das 2020 fertig sein soll.

Linde Engineering Dresden ist weltweit führend bei Planung, Lieferung und Bau von Petrochemie-, Luftzerlegungs-, Gas-, CO2 - und Energieanlagen. Auf seiner Referenzliste stehen auch große Petrochemieprojekte im Nahen Osten und in Europa, darunter Polyethylen- und Polypropylen-Anlagen und Luftverflüssigungs- und Luftzerlegungsanlagen. Auch bei kohlenstoffarmen und sauberen Energietechnologien und Prozessanlagen, etwa für die Lebensmittelindustrie, hatte sich die als Linde-KCA bekannte und 2015 im Konzern aufgegangene Adresse einen Namen gemacht.

Unlängst gab es Irritationen an der Linde-Spitze, weil der designierte Finanzchef des künftigen Konzerns, Matthew White, den im Vergleich zum Gasegeschäft renditeschwachen Anlagenbau infrage gestellt hatte. Gesamtkonzernchef Steve Angel relativierte, es gebe „keine Entscheidungen“.

Neue Unruhe an der Elbe? Nein, denn schlimmer als vor einem Jahr kann es nicht kommen, heißt es dort. Der neue Standortleiter Jürgen Velte will sich zum Thema nicht äußern – redet sonst aber gern darüber, was sich seitdem getan hat. „Managing Director“ steht auf der Visitenkarte des 53-Jährigen. Der Mann aus Pullach bei München hatte in Dresden schon mal für anderthalb Jahre das Sagen, als der Standort noch eine eigenständige GmbH war. „Ich habe die Entwicklung in Dresden immer mitverfolgt und glaube an den Standort. Deshalb bin ich wieder hier“, sagt er. Die Konzernzentrale habe beschlossen, dass die Dresdner ein eigenständiges Profil erhalten. „Wir sind jetzt eigenständiger, als wir es als GmbH je waren – obwohl wir immer noch eine Niederlassung der AG sind. Unsere Produkte und Technologien verantworten wir selbst“, sagt er. Für den Erfolg sei die eigene Identität wichtig.

Das dürfte auch Ex-Linde-KCA-Chef Günter Bruntsch gern hören. Der Unternehmensberater und Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Dresden hatte schon im Sommer angeregt: Der Standort muss sich neu aufstellen und mit eigenem Konzept bei Praxair vorsprechen – sonst wird man schnell der letzte Waggon der Münchner Hofbräubahn.“ Der frühere Kombinatsdirektor hatte 1989 als erster Ossi ein Gemeinschaftsunternehmen mit dem Westkonzern Linde beantragt.

Der Schwerpunkt der Dresdner liegt auf Anlagen zur Gewinnung von Kohlendioxid (CO2) für die Lebensmittelindustrie. Gerade wird ein Projekt in Keyes (Kalifornien) realisiert. „Diese Anlagen sind sowohl für unseren internen Abnehmer Linde Gas essenziell, wie auch am Drittkundenmarkt sehr gefragt“, sagt der Chef. Ferner seien die Dresdner weltweit für Polymeranlagen verantwortlich, die vor allem in Nordamerika boomen. Auf jenen Gebieten sei der Linde-Ableger etabliert. „Aber wir wollen uns auch bei komplexen Revisionen und Erweiterungen vorhandener Anlagen engagieren. Dafür sind wir mit unseren hoch qualifizierten Ingenieuren prädestiniert“, so Velte. „Zusätzlich haben wir den Gastransport im Blick und wollen im Markt für Pilot- oder Spezialanlagen Fuß fassen.“

Als hätte es den Grabgesang nie gegeben. „Um unsere ambitionierten Pläne umzusetzen, benötigen wir zusätzliche engagierte Vertriebsmitarbeiter“, sagt der Manager. Deshalb – und trotz des Freiwilligenprogramms zum Jobabbau – würden demnächst verschiedene Stellen extern ausgeschrieben. Das Geschäft im Anlagenbau sei angesichts der Finanz-, Öl- und Politikkrisen sehr volatil, sodass langfristige Prognosen schwer seien. „Aber in den nächsten zwei, drei Jahren werden wir unser Portfolio – und da sehe ich CO2-Anlagen als Nukleus – weiter ausbauen: standardisieren, modularisieren, mehr Produkte in Richtung Systemgeschäft entwickeln“, ist der neue alte Chef zuversichtlich. „Ich sage immer: Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt. Lamentieren hilft nicht. Wir sind auch von den Kostenstrukturen her gut aufgestellt und wettbewerbsfähig.“

Mit solchen Worten begegnet Velte auch Aussagen, Dresden sei defizitär. Immerhin arbeitet die Belegschaft nach Angaben des Betriebsrats auch fünf Stunden pro Woche länger als ihre West-Kollegen. Das bringt laut Unternehmensberatung Kemper & Schlomski bei den Stundensätzen einen Kostenvorteil von 40 Prozent.

Niederlassungsleiter Velte ist der Kontakt zu Landespolitik und lokalen Partnern wichtig – nicht nur, weil sie mit um den Standort gekämpft haben. Linde sei auch bei der TU Dresden engagiert, er selbst halte Vorlesungen zu Projektmanagement, Führung und Kommunikation. „Wir gehören zu Dresden und sind uns auch unserer sozialen Verantwortung bewusst“, sagt er. Und er arbeite „eng und konstruktiv“ mit dem Betriebsrat zusammen. „Das heißt nicht, dass per se alles durchgewinkt wird“, so Velte. „Erstmals haben wir dem Betriebsrat die detaillierte Finanzplanung für 2018 transparent erklärt.“

Die Arbeitnehmervertretung bestätigt die neue Unternehmenskultur. „Alle Mitarbeiter müssen jetzt zupacken und nach vorn schauen“, appelliert Betriebsratschef Frank Sonntag. „Wir empfinden große Dankbarkeit gegenüber allen, die engagiert und couragiert zum Erhalt des Linde-Anlagenbau Standortes Dresden beigetragen haben“, sagt er und: „Wir sind von denjenigen enttäuscht, die weggeschaut haben, als wir in großer Bedrängnis waren.“

Sonntag hatte im Sommer für Schlagzeilen gesorgt, weil er als einziger Arbeitnehmervertreter im Linde-Aufsichtsrat nicht gegen die Fusion mit Praxair stimmte, sich enthielt – und so die Jobs der Kollegen sichern half. Sein Fazit: „Die Mitarbeiter schauen dem Jahresende wesentlich optimistischer entgegen als vor einem Jahr.“