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Roncalli für alli

Zirkuskenner Ernst Günther freut sich auf das erste Gastspiel von Bernhard Pauls legendärem Münchner Circus in Dresden.

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© dpa

Von Ernst Günther

Das Virus befiel ihn, als er sechs Jahre alt war. Seither ist Bernhard Paul infiziert. Vom Zirkus. Als Jongleur und Gleichgewichtskünstler (Äquilibrist) probiert er sich selbst aus, entwickelt eine ganz spezielle Sammelleidenschaft. Sogar ein maßstabgetreuer Modellzirkus gehört zu seiner Sammlung. Die Liebe zum Zirkus, insbesondere zu den Clowns, treibt den 67-Jährigen bis heute an. Zum Beispiel ersteigerte er den Nachlass – inklusive des Schlafzimmers – von Charles Adrien Wettach, der unter dem Namen Grock und mit seinem Spruch „Nit mööglich“ weltberühmt wurde. Der König der Clowns beziehungsweise dessen Geist ist nun allzeit präsent in Bernhard Pauls Kölner Wohnung und inspiriert den gebürtigen Österreicher.

Bernhard Paul, Visionär und Multitalent und Zirkusdirektor, ist der Mann hinter der Idee Roncalli. Ihm applaudiert die Welt, denn er war der Erste, der die erstarrte Zirkuskunst erneuerte, noch vor dem Cirque Nouveau der Franzosen und dem kanadischen Cirque du Soleil. Sein Credo: „Ich möchte einen Circus machen, wie er früher existiert hat. Die Sinne der Zuschauer sollen wieder angesprochen werden.“ Ein Zirkus als Gegenentwurf zur Jagd nach Superlativen und Sensationen, zu Nervenkitzel und den „herzlosen Containerzirkussen“. Wie schrieb doch der französische Dichter Theophile Gautier: „Der Circus ist das schönste aller visuellen Spiele.“

Zirkus ist Kunst – was sonst

Über 18 Millionen Menschen haben sich in den vergangenen fast 40 Jahren im Roncalli verzaubern lassen. Er ist Kult in Europas Metropolen, aber hat noch nie in Ostdeutschland gespielt. Das wird sich nun ändern, nun stehen Rostock, Dresden, Magdeburg und Leipzig auf dem Programm.

Faszinierend ist schon der Name Roncalli. Paul ließ sich dazu inspirieren vom Drehbuch-Titel des „Kommissar Rex“-Erfinders Peter Hajek „Sarah Roncalli, Tochter des Mondes“, und durch den bürgerlichen Namen von Papst Johannes XXIII.: Angelo Roncalli. Wer auf dem mit einem magischen Zaun umschlossenen Platz zwischen den traumhaft schön bemalten historischen Wagen flaniert, wer den „Dom aus Licht und Luft“ betritt, im Vorzelt überrascht und im Hauptzelt von Wärme, Licht, Farben und Musik umfangen wird, der erlebt ein Gesamtkunstwerk, das es verdient, Fest der Sinne genannt zu werden. Oder, wie es in der Beschreibung des Programms Salto Vitale heißt: „Ein Cirkusstück sowie ein Stück Cirkus in zwei Akten, aufgeführt auf Sägemehl .“

Den Aufstieg des Circus Roncalli habe ich von Anbeginn verfolgt. Zunächst aus der Ferne. Der Weltpremiere 1976 in Partnerschaft mit André Heller, die bald zerbrach, folgte das Comeback nach Phönix-Art 1980 im Juni in Köln. Uraufführung der legendären „Reise zum Regenbogen“. Was dann geschah, dürfte in der deutschen Zirkusgeschichte des Jahrhunderts einmalig sein. Die Medien waren sich einig: „Die neue Zirkusidee von Roncalli trifft den Nerv der Zeit.“

„Roncalli über alli“ schrieb Rudolf Augstein 1981 ins Gästebuch. Johannes Rau, damals Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen formulierte zum zehnjährigen Jubiläum weniger neiderregend: „Roncalli für alli.“ Erstmals live erlebte ich Roncalli 1989 in seiner Heimatstadt. Der Direktor gab selbst den Dummen August „Zippo“. Die Show übertraf all meine Erwartungen. Jetzt verstand ich Pauls Äußerung: „Ist Zirkus Kunst? Selbstverständlich. Was sonst?“

Erfolg und permanente Medienpräsenz erschreckten die Konkurrenz. Mit einem beispiellosen „Zirkuskrieg“ versuchte sie gegenzusteuern. Da er aber einseitig blieb, wechselte man von der Diffamierung zur Kopie. Das Epigonentum nahm hysterische Züge an. Geradezu aberwitzig, dass nun die Besucher in vielen anderen Zirkussen den roten Roncalli-Punkt auf die Nase bekamen und im Konfettiregen standen.

Pauls Ideen veränderten die Zirkus-Szene. Plötzlich wurde die goldbetresste
Livree, die er dem Vergessen entrissen hatte, Mode. Weißclown und Pantomime reüssierten. Selbst die Bemalung der Zirkuswagen ahmten andere nach. Schlüsselbegriffe wie Circus-Poesie, Traum- und Märchenzirkus wurden inflationär. Wer es sich leisten konnte, ließ „Zirkusstücke“ schreiben.

„Ich hoffe, dass es in Zukunft nicht beim Kopieren bleibt.“ resümierte Paul 1983. Und so kam es auch. Aber: Als ich 1988 für den Almanach „Kassette 11“ den „Roncalli-Effekt“ recherchierte, stellte ich fest, dass diese Kreativität eher als hierzulande in Frankreich, Schweden, Italien, Kanada und der Schweiz dominierte. In den Neunzigern brach der Trend ab. Das Großangebot an neuartigen, leistungsstarken und originellen Darbietungen, insbesondere aus Russland und China, bewegte immer mehr Zirkusdirektoren, zum tradierten Nummernprogramm zurückzukehren. Andere versuchen es heute mit Horror-, Liebes- oder Projektzirkus. Roncalli behielt indes sein Alleinstellungsmerkmal. Der clevere Direktor sorgte dafür, dass der Name für mehr steht als für Zirkus. Er ist zur internationalen Marke geworden. Nicht von ungefähr verlieh die Republik Österreich Bernhard Paul 2006 den Professorentitel.

Viel vom alten Sarrasani gelernt

Mit einer zweiten Truppe, der „roten Einheit“, erkennbar an der Farbe des Logos, startete Bernhard Paul in Partnerschaft mit Grandezza Entertainment im August 2014 ein weiteres Unternehmen. Auf einer zweijährigen Sondertournee werden Städte bespielt, die bislang auf das Erlebnis Roncalli verzichten mussten, darunter Dresden. Möglich machen dies der große Fundus an restaurierten Zirkuswagen, etliche von Paul selbst bemalt und das erste Roncalli-Zelt, das wie neu aussieht. Für das Programm „Salto vitale“ wurde ein Titel von 1998 adaptiert. Die beiden Worte stehen seit jeher als Gruß unter der Roncalli-Post. Für die Inszenierung wählte Paul neben erfolgreichen und hier nicht bekannten Künstlern früherer Programme neue Nummern im Roncalli-Stil aus.

Mit Dresden fühlt sich Bernhard Paul übrigens emotional besonders verbunden. „Ich habe viel vom alten Sarrasani gelernt“, sagt er, als er mir seine „Schatzkammer“, die einzigartige Zirkus- und Varietésammlung, zeigt. Darin bewahrt er auch drei seltene Sarrasani-Erinnerungen: die Schirmmütze des Zirkusgründers; einen Teller von 1912 aus einem Restaurant im Dresdner Sarrasani-Bau und das Radebeuler Straßenschild der Stosch-Sarrasani-Straße.

Unser Autor beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Zirkus als Kritiker und Autor. Für das Buch „Circus Roncalli“ schrieb er eine kurze Geschichte des Circus unter dem Titel: Die Ahnengalerie. Der Circus Roncalli gastiert vom 8. bis 25. Mai auf dem Volksfestplatz Ostragehege.