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Wie rechts ist der Osten?

Eine Studie geht Ursachen von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Sachsen und Ostdeutschland nach.

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© Robert Michael

Von Peter Heimann, Berlin

Rechtsextremismus ist „nicht ausschließlich ein Ost-West-Problem“, sondern auch eines mit Unterschieden zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie. Es kann und wird insbesondere in Sachsen befördert durch spezifische regionale Faktoren, die in Ostdeutschland insgesamt stärker ausgeprägt sind als im Westen. So lautet die Kernaussage einer neuen Studie des Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), hatte die Studie 2016 in Auftrag gegeben, um mögliche Ursachen von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland zu untersuchen und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.

Gefahr für die regionale Wirtschaft

Hintergrund der Untersuchung war der besorgniserregende Anstieg rechts motivierter Gewalttaten in Deutschland im Jahr 2015: Waren im Jahr zuvor 990 solcher Delikte registriert worden, stieg die Zahl auf nunmehr 1 408 Gewalttaten an. Bei der regionalen Verteilung der Straftaten fiel auf, dass die neuen Bundesländer im Verhältnis zur Einwohnerzahl, aber auch in absoluten Zahlen herausstachen. Im aktuellen Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit wird auf diese Entwicklung nicht nur hingewiesen, sondern diese zunehmend als „eine große Gefahr für die gesellschaftliche, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder“ eingestuft.

Die Göttingen Wissenschaftler analysierten nun „eine Untersuchungsregion, die durch asylfeindliche Proteste im Jahr 2015 aufgefallen war: die Metropolregion Dresden, konkret: die Städte Freital und Heidenau“. Als zweite Region wurde zum anderen die Stadt Erfurt ausgewählt, wobei der Schwerpunkt der Forscher auf dem Stadtteil Herrenberg lag, „der seit Längerem für seine starke rechtsextreme Szene bekannt ist“. In diesen Gebieten wurden zwischen Mai und Dezember 2016 „knapp vierzig Einzelinterviews mit Personen durchgeführt, vornehmlich mit Beobachtern und Akteuren aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Ergänzt wurden diese Gespräche durch mehrere Fokusgruppen, Gespräche mit Bewohnern vor Ort sowie Dokumenten und Analysen.

Klimafaktoren für Rechtsextremismus

„Insbesondere die asylfeindlichen Proteste in sächsischen Gemeinden wie Freital, Clausnitz, Heidenau, Bautzen oder der weitgehend regional begrenzte Erfolg der islamfeindlichen Pegida-Demonstrationen haben gezeigt, dass es in dieser Region ein besonderes Problem mit Rechtsextremismus gibt, zumal der Freistaat Sachsen auch bei den Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte die höchste Falldichte aufweist“, schreiben die Forscher in einer Zusammenfassung. „Aber es wäre verfehlt, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und fremdenfeindliche Übergriffe als ein primär ostdeutsches oder gar vor allem sächsisches Problem zu verorten: Neben einigen schwer zu entkräftenden statistischen Signifikanzen zeigt der vorliegende Abschlussbericht, dass es neben spezifisch ostdeutschen Ursachen auch bedeutsame regionale Spezifika zu beachten gilt, die erst in der Summe ein Klima schaffen, in dem Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gedeihen können.“

Sehr selektive Erinnerungskultur

Es scheine so, „dass zweifellos bestehende Dispositionen zu autoritärem und rechtem Denken in Ostdeutschland erst in und durch die politische Kultur vor Ort eruptiv eskalieren, unterschwellig wirken oder aber aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt, ganz offen bekämpft und damit auf lange Sicht kollektiv be- und verarbeitet werden“. Als eine Ursache machten die Wissenschaftler eine selektive Erinnerungskultur aus, die im Raum Dresden „den eigenen Opferstatus mythologisch überhöht und an die langfristigen braunen Spuren der Stadtgeschichte“ kaum erinnert – oder die starke Neigung, „die Migrationspolitik der DDR zu verklären“. Dass Misstrauen und Neid gegenüber dem anderen, fremden bis hin zu fremdenfeindlichen Übergriffen oder systematischer staatlicher Diskriminierung auch schon in der DDR wirksam waren, während rassistische Übergriffe verschwiegen oder verharmlost wurden, ... dass die DDR sich sehr stark auch ethnisch definierte“, spiele in der Erinnerung faktisch keine Rolle. Auch Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit, etwa in Bezug auf die Hoffnungen, die mit der deutschen Einheit verbunden waren, würden vielfach allein auf die wahrgenommenen Enttäuschungen reduziert, nicht aber mit womöglich überzogenen Erwartungen an die Bundesrepublik kontrastiert.

Überhöhung der eigenen Identität

Die Wissenschaftler haben vor allem in Sachsen ein spürbares Bedürfnis nach einer kollektiven Identifikation mit einer möglichst positiven, moralisch „sauberen“ regionalen Identität ausgemacht. „Unsere Befragten haben das Gefühl, dass die (als überheblich wahrgenommenen) Bewohner der alten Bundesländer sie noch immer gering schätzen; vor allem aber sind sie darüber verärgert, dass westdeutsche Journalisten und Politiker den Eindruck erwecken, Rechtsextremismus sei in den neuen Ländern, damit in `ihrer` Region, weiter verbreitet“ als im Westen. Dies verstärke noch das Bedürfnis, die eigene regionale oder ostdeutsche Identität zu romantisieren und so das Problem der Fremdenfeindlichkeit entweder auszublenden oder, wie im Falle der Selbstdarstellung vieler Sachsen als „fischelant“ zu heroisieren, als Ausdruck einer genuin sächsischen Widerständigkeit und Streitlust zu deuten. „Die Überhöhung des Eigenen, Sächsischen, Ostdeutschen, Deutschen in Bezug auf die krisenhaft wahrgenommene Aufnahme von Flüchtenden, aber auch auf Migranten im Allgemeinen, hat in all unseren Fokusgruppeninterviews eine wichtige Rolle gespielt. In sämtlichen Gesprächen sind wir auf eine latente Fremdenfeindlichkeit gestoßen, die sich vor allem auf Muslime und Muslimas fokussiert.“

Unbehagen gegenüber der Politik

In Ostdeutschland, insbesondere in Sachsen, herrscht laut den Göttinger Wissenschaftlern in vielen öffentlichen Einrichtungen – nicht nur in den Rathäusern, sondern auch in den Schulen oder bis hin zu den Gerichten ein großes Unbehagen am Politischen, das unter anderem auf die Er

fahrungen mit der Staatspolitisierung der auf Parteilinie getrimmten DDR-Institutionen zurückzuführen ist. „Insbesondere in Sachsen, und zugespitzt in Freital, haben wir gesehen, wie sehr die Entpolitisierung des Politischen ein politisches Klima bereiten kann, in dem Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit weiter erstarken.“ Zu nennen wären hier der häufige Versuch einer Harmonisierung von Erinnerung, der (patriotische) Appell an das sächsische Gemeinwesen bis hin zur Überhöhung des Sächsischen als Politik-Ersatz.

Ablehnung westlicher Werte

Auffällig sei, dass antiamerikanische Ressentiments sowie das Misstrauen gegenüber „dem Westen“ in der Region Dresden besonders stark verbreitet sind. Die gefühlsmäßige Bindung an Russland und die Ablehnung des US-amerikanischen „Imperialismus“ sei historisch gewachsen und überaus stark. Die Wissenschaftler raten: „Zeigefinger-Lösungsvorschläge aus dem vermeintlich weltoffeneren Westen sollten angesichts der ostdeutschen Probleme bezüglich Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus unterbleiben.“ Gleicke sieht in der Studie die Bestätigung, „dass die Lokalpolitik und das Verhalten regionaler Behörden von größter Bedeutung sind“. Passivität oder eine falsch verstandene Neutralität staatlicher und politischer Repräsentanten vor Ort gegenüber Rechtsextremismus könnten „verheerende Folgen haben“.