Merken

Riesenknall schon vor Silvester

Gigantische Munitionsmengen explodierten vor 100 Jahren in der Albertstadt. Viel schwerer wiegen die Menschenleben.

Teilen
Folgen
© Holger Naumann

Von Lars Kühl

Es gab keine Vorwarnung. Und auch kein Entrinnen. Es machte einfach „Bumm“. Der Jahreswechsel stand erst in drei Tagen bevor, doch mit einer vorfristigen Silvesterparty hatte das Feuerwerk rein gar nichts zu tun. Es war zerstörerisch und tödlich. Schuld war der Erste Weltkrieg, der seit gut zwei Jahren wütete und nach immer mehr Material schrie.

Das Ausmaß der Zerstörung durch die Explosionen und Brände war gigantisch. Es dauerte über ein Jahr, alles aufzuräumen.
Das Ausmaß der Zerstörung durch die Explosionen und Brände war gigantisch. Es dauerte über ein Jahr, alles aufzuräumen. © Technische Sammlungen

Am 28. Dezember 1916, einem Donnerstag, flogen zahlreiche Gebäude und Magazine der Munitionsfabrik im heutigen Industriegelände oberhalb der erweiterten Albertstadt in die Luft. Die Explosion erschütterte ganz Dresden und seine Umgebung. Zeitzeugen berichteten beispielsweise aus Radebeul, dass sie zunächst an ein Erdbeben glaubten, so wackelte der Boden.

Dann war der Feuerschein am Nordhang der Stadt von überall zu sehen. Funken regneten durch die Luft. Allen war klar, hier war etwas Schlimmes passiert. Und es hörte einfach nicht auf. Es war wie beim Dominoeffekt. Ein Geschoss, das in die Luft ging, sprengte ein weiteres. Der Brand war gelegt und die Flammen griffen sich einen Schuppen nach dem anderen.

Das Unglück zog seine Kreise. Zwei Tage wütete das Feuer. Immer wieder krachte es erneut. Granaten, Munitionssplitter und Blindgänger detonierten. Sie flogen bis weit in die nahe Heide hinein. Das sofortige Anrücken der Feuerwehr wäre für die meisten Kameraden der sichere Tod gewesen. So dauerte es bis zum 4. Januar 1917, bevor die Einsatzkräfte mit dem Aufräumen beginnen konnten.

Diese Arbeiten blieben lebensgefährlich – und forderten weitere Opfer. Zu den fünf Menschen, die durch die Explosion tot waren, und den drei, die danach an ihren Verletzungen starben, kamen drei hinzu. Darüber hinaus gab es 20 Verletzte (Dresdner Geschichtsbuch, Band 11). Die Liste der materiellen Verluste ist ebenfalls lang: 20 Geschoss-, Feldpatronen- und Pulverhäuser, neun Hallen, in denen Munition gefertigt wurde, genauso viele Lagerhäuser, dazu 15 Munitionsschuppen, weitere Gebäude und Wellblechhütten. Ein Zug stand so gut wie voll beladen zur Abfahrt bereit. Er wurde komplett zerstört, dazu 4,4 Millionen scharfe Gewehrpatronen, 577 000 für Pistolen, über 2,5 Millionen Platzpatronen, 550 000 Zünder, 100 Tonnen Pulver und Ammoniumsalpeter, fast 95 000 Geschosse für Feldkanonen sowie über 58 000 für leichte Haubitzen. Von den Gleisen für die Güterzüge und Förderbahnen, die im Produktionsgelände verlegt waren, wurde fast ein Kilometer demoliert.

Der Gesamtschaden wurde auf knapp 25 Millionen Mark geschätzt. Trotz des riesigen Ausmaßes der Zerstörung blieb die zu Kriegsbeginn am Nordende des Arsenals errichtete neue Munitionsanstalt mit ihren sieben Gebäuden und 26 Magazinen fast unversehrt – die Kriegsmaterialproduktion lief dort auch sofort weiter.

Doch wie konnte es zu einer derartigen Katastrophe kommen? Noch am Unglückstag machten Gerüchte die Runde: Von einem Anschlag war unter den Dresdnern die Rede. Feinde hatte Kriegsdeutschland damals genug. Die Wahrheit war allerdings eine andere: In Magazin Nr. 23 untersuchten Angestellte fehlerhafte Munition. Die war von der Front zurückgeschickt worden, weil mit ihr etwas nicht gestimmt hatte. Ihre Qualität war zu schlecht. Gut genug aber, um den Riesenknall zu auszulösen. Die Arbeiter hatten keine Chance. Das Desaster war nicht mehr zu stoppen.

Oberbürgermeister Bernhard Blüher tat alles, um die aufgebrachte Bevölkerung zu beruhigen. Am Abend des 28. Dezember fand noch eine Stadtverordnetenversammlung statt. Dabei gab er eine Erklärung ab, die die Umstände der Explosion erläuterte.

Trotzdem hielt sich die schlechte Stimmung lange in Dresden. Alle Schäden zu beseitigen, dauerte bis 1918. Dabei passierten weitere tragische Vorfälle. Zum Schluss wurde sogar ein Mann mit Wünschelrute auf Munitionssuche geschickt, der sich auf dem Schlachtfeld bewährt hatte.

Eine Entschädigung für die Angestellten und das Unternehmen gewährte das sächsische Kriegsministerium erst im Oktober 1917. Vor allem, um die Wut auf die Militärverwaltung zu mildern. Aufgebaut wurden die zerstörten Gebäude aber nicht mehr. Kurz vor dem Unglück waren Sicherheitsbestimmungen erlassen worden, die größere Abstände zwischen den Magazinen forderten.

Trotzdem arbeiteten bereits acht Tage nach der Tragödie wieder 1 500 Menschen in der Munitionsanstalt, die vorher über 10 000 beschäftigt hatte. Die Kriegsmaschinerie musste schließlich wieder anlaufen.