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Riesa wehrt sich

Dr. Karl-Heinz Nitschke organisiert den ersten massiven Widerstand von ausreisewilligen Bürgern in der DDR-Geschichte. Die Stasi ist gewillt, die Gruppe brutal zu zerschlagen.

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Von Jens Ostrowski

Der 31. August 1976 ist der Tag, an dem sie Dr. Karl-Heinz Nitschke holen. Drei Stasi-Männer und ein Staatsanwalt verhaften ihn am Mittagstisch seiner Wohnung in der Schweriner Straße 26 – vor den Augen seiner Ehefrau Dagmar. Es ist der vorläufige Höhepunkt monatelanger Strapazen, die der 46-jährige Internist der Betriebspoliklinik Gröba und seine dreiköpfige Familie erleiden müssen.

Dr. Nitschke zählt zu den größten Staatsfeinden der DDR – weil er das System mit seinen eigenen Waffen schlagen will. Er hat die „Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte“ verfasst, die von 79 DDR-Bürgern unterschrieben die Stasi in Riesa, Dresden, sogar bis hoch zu Minister Mielke seit Monaten auf Trab hält. Denn Dr. Nitschke hat den ersten Massenwiderstand von Ausreiseantragstellern in der Geschichte der DDR organisiert. Die Stasi ist in höchste Alarmbereitschaft versetzt – und gewillt, die Gruppe brutal zu zerschlagen. Dabei ist das „Problem“ hausgemacht.

Die Menschen berufen sich auf die 1975 von Erich Honecker in Helsinki unterzeichnete KSZE-Schlussakte. Um vor dem Westen den Schein zu wahren, hat sich die DDR darin verpflichtet, die Menschenrechte einzuhalten, nach denen sich jeder Bürger seinen Wohnort frei aussuchen kann. Kein Wunder, dass unter der Bevölkerung Begehrlichkeiten geweckt werden. Doch Honeckers Unterschrift ist keinen Pfifferling wert. Er weiß, dass die Schlussakte kein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag ist. Und er traut seiner Staatssicherheit zu, mit aufsässigen Bürgern geräuschlos fertig zu werden. Doch mit Karl-Heinz Nitschke und den Auswirkungen seiner Petition rechnet er nicht.

Der 1930 in Leipzig geborene Mediziner ist ein Humanist, der die DDR-Behörden nicht mit Gewalt, sondern mit Worten schlagen will. Er liebt Musik – von Klassik bis Jazz. Seine Tochter Marion, die heute in der Nähe von Hannover lebt, sagt über ihn: „Er hatte einen besonderen Humor, mochte Heinz Erhard und Heinz Rühmann. Er war von Natur aus ein friedlicher Mensch, der aber bedingungslos gegen Ungerechtigkeit vorging.“ Doch mit seinen Ansichten eckt er im Sozialismus an.

Nitschkes großer Traum ist es damals, als Landarzt in einer eigenen Praxis zu arbeiten. Stattdessen aber soll er 1964 kurz nach dem Studium als Musterungsarzt in Quedlinburg tätig werden. Dagegen sträubt er sich. Lieber nehme er eine Knarre in die Hand und kämpfe gegen die DDR, bevor er diesem Staat Soldaten liefere, sagt er einem Freund, der ihn später an die Stasi ausliefert.

Schon mit dem Mauerbau beschließt Dr. Nitschke, nicht mehr in der DDR leben zu wollen. Er fühle sich eingesperrt wie ein Tier im Käfig, schreibt er an Verwandte im Westen. Als er sich eingestehen muss, dass er trotz Unterstützung durch das Deutsche Rote Kreuz das Land nicht legal verlassen kann, denkt er über Flucht nach. Der bevorstehende Antritt als Musterungsarzt ist der letzte Anstoß, den es dazu braucht. Nitschke will mit seiner Ehefrau und der einjährigen Marion in einem Schlauchboot über die Ostsee in die Freiheit fahren.

„Schon bei den Vorbereitungen dafür hat er große Risiken auf sich genommen“, weiß die Tochter. Ein Neffe aus Düsseldorf schmuggelt spektakulär einen PS-starken Bootsmotor über die Grenze in die DDR, den Nitschke mitten auf der Autobahn entgegennimmt.

Die Wochenenden verbringt die Familie ab sofort im brandenburgischen Wusterwitz. Auf dem dortigen See erprobt Dr. Nitschke immer und immer wieder das Boot. Zwischendurch fährt er an die Ostsee, um eine geeignete Stelle für die Flucht zu suchen. Er will von Born auf dem Darß Richtung Dänemark fahren und hofft, nach der stark kontrollierten Drei-Meilen-Zone von einem westlichen Schiff aufgenommen zu werden. Doch die Familie wird das Boot nie besteigen. Nitschkes Freund Ernst Seidel verrät ihn – er ist der einzige, dem sich der Mediziner anvertraut hatte. Ein Fehler. Die Stasi nimmt den Doktor am 22. September 1964 – nur wenige Tage vor der geplanten Flucht – an der Ostsee fest.

Bei Regime-Kritikern kennt das System keine Gnade. Weil er frei sein will, wird der Arzt nun zu zwei Jahren Haft verurteilt, seine Ehefrau zu einem Jahr auf Bewährung. Obwohl die junge Familie den Vater händeringend braucht, werden die Gnadengesuche abgelehnt. Nitschke sitzt seine Strafe bis zum letzten Tag ab. Das gesparte Vermögen sowie das Auto werden eingezogen.

1973. Eine neue Arbeitsstelle verschlägt die Familie ein paar Jahre später nach Riesa. In der Betriebspoliklinik Gröba wird ein Internist gesucht, Nitschke bewirbt sich und wird genommen. Weshalb Karl-Heinz Nitschke den Arbeitsplatz wechselt, ist nicht mehr recherchierbar. Klar ist aber: Einen Neuanfang sucht er in Riesa nach allen Strapazen nicht. Seine Ausreisepläne gibt der Mediziner nicht auf. Noch immer will er nichts wie weg aus der DDR. Wieder will er flüchten. Und wieder geht es schief.

1975 im Campingurlaub sucht er für sich und seine Familie einen Weg von Rumänien nach Jugoslawien und wird nahe der Grenze von Kopfgeldjägern verhaftet. Er wird tagelang in einer ungezieferverseuchten Zelle eingesperrt, darf sich weder waschen noch rasieren und auch keine Medikamente einnehmen, berichtet er später in einem Brief. Auch die Ehefrau wird tagsüber stundenlang verhört. „In dieser Zeit musste ich im Auto vor dem Gefängnis warten – ohne zu wissen, ob die Eltern überhaupt wieder kommen“, erinnert sich die damals 13-jährige Marion.

Wie ein Schwerverbrecher in Handschellen gekettet wird Nitschke nach anderthalb Wochen in die DDR geflogen und der Staatssicherheit übergeben. In der Bezirksverwaltung an der Bautzener Straße in Dresden folgt von 19 Uhr abends bis 4 Uhr morgens ein Verhörmarathon. Nitschke bleibt standhaft, leugnet die Fluchtpläne, betont aber, dass er die DDR unbedingt verlassen wolle. So sehr sich die Verhöroffiziere auch bemühen, sie können ihm die geplante Flucht nicht nachweisen, drohen jedoch, er werde erneut verhaftet, wenn er sich nicht ruhig verhalte. Sie ahnen nicht, dass Nitschke die Menschenrechtsverletzungen der DDR schon bald auf das Parkett der Weltöffentlichkeit zerren wird.

Seit 1973 ringen die europäischen Staaten aus Ost und West miteinander. Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ist ein neuer Höhepunkt der Entspannungspolitik zwischen Warschauer Pakt und der NATO. Die Konfrontation soll der Zusammenarbeit weichen. Während der Westen auf Verständigung aus ist, hat der Ostblock vor allem auch eines im Sinn: Er will die Aufteilung des Kontinents in zwei Hälften, die seit Kriegsende Bestand hat, auf ewig betonieren. Nach zweijährigen Verhandlungen garantierten sich die beteiligten Staaten am 1. August 1975 in Helsinki unter anderem die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen, die friedliche Regelung von Streitigkeiten und die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Für diesen Erfolg müssen die kommunistischen Diktatoren allerdings eine bittere Pille schlucken: Im „Korb III“ der Schlussakte sichern die Ostblockstaaten zu, „die Menschenrechte und Grundfreiheiten“ achten zu wollen. Das führt in den kommenden Monaten in der DDR zu einer Welle von Ausreiseanträgen.

Aderlass im Gesundheitswesen

Auch Karl-Heinz Nitschke reicht beim Rat des Kreises Riesa einen Antrag ein, der nur einen Monat später ohne Begründung abgelehnt wird. Auch den zweiten und dritten Antrag lehnen die Behörden ab.

Zwar ist es Methode des Regimes, Antragsteller so lange hinzuhalten, bis die Betroffenen aufgeben. Bei Nitschke dürfte allerdings erschwerend hinzukommen, dass die DDR einen weiteren Mediziner nicht verlieren will. Denn zwischen Januar 1974 und Juli 1976 fliehen alleine 404 Ärzte, Medizin-Studenten und weitere Fachkräfte des Gesundheitswesens. Dreimal so viele haben Ausreiseanträge gestellt.

Parallel zu seinen Bemühungen hilft Nitschkes Schwester Elfriede Noack von Düsseldorf aus, wo sie nur kann. So wendet sie sich an den Ministerrat und den Innenminister der DDR. Sie wiederholt die Argumente der Familie und bittet als Westbürgerin, ihre Verwandten ausreisen zu lassen. Am Ende droht sie, sie werde sich nicht scheuen, auch ausländische Organisationen für Menschenrechte einzuschalten. Doch sie wird nie eine Antwort erhalten.

Auch, dass Elfriede Noack jetzt Kontakt zur Ständigen Vertretung der BRD in Ostberlin aufnimmt, bleibt der Staatssicherheit nicht verborgen. Das „Objekt 499“ wird rund um die Uhr vom DDR-Geheimdienst überwacht, Besucher fotografiert, Telefone angezapft. So beauftragt die Spionageabwehr des MfS im Oktober 1975 die Bezirksverwaltung Dresden um Überprüfung der Angelegenheit Nitschke. Oberstleutnant Löb delegiert die Aufgabe an die Kreisdienststelle Riesa weiter. Ab jetzt bleibt Karl-Heinz Nitschke nicht mehr unbeobachtet. Die Stasi legt den Operativvorgang (OV) „Arzt“ an. Über ein Dutzend Spitzel heftet sich ihm an die Fersen.

Vor allem, dass der Mediziner sich in der Betriebspoliklinik Patienten gegenüber regimekritisch äußert, gefällt der Stasi nicht. Das hat laut Nitschke Folgen. In einem Brief an seine Schwester schreibt er: „Heute wurde ich 10.30 Uhr überraschend vor das Direktorium der Poliklinik berufen und überfallsweise wurde mir nachfolgende neue Arbeitssituation diktiert. Ich habe mich ab sofort mit den Patienten nur über fachliche Dinge zu unterhalten. Privatgespräche und Diskussionen mit Patienten sind mir verboten. Durchführung von Hausbesuchen ist mir ab sofort verboten (...) Mein Personal wird ab sofort dem Überpfleger unterstellt, es ist mir nur zur Hilfeleistung während der Sprechstunde zugeteilt. Ich persönlich werde ab sofort dem Ärztlichen Direktor Schäfer unterstellt.“

Dr. Dieter Frank, damals stellvertretender Direktor der Betriebspoliklinik, bestreitet heute diese massiven Beschneidungen. Demnach habe es disziplinarische Maßnahmen gegeben, aber keine, die Nitschke die Ausübung seiner ärztlichen Pflichten erschwerten. Auch dass dies etwas mit den Ausreiseplänen zu tun gehabt haben könnte, habe er nicht erkennen können. Vielmehr sei berufliches Fehlverhalten des Mediziners ursächlich für diese und zuvor schon andere Aussprachen gewesen. Von Nitschkes politischen Problemen habe Frank zu diesem Zeitpunkt nichts gewusst.

Die Stasi schlägt zurück

Direktor Klaus Schäfer aber weiß davon. Auch, wenn er zu dieser Zeit noch nicht als Inoffizieller Mitarbeiter geführt wird, arbeitet er gegen Nitschke bereits eng mit der Staatssicherheit zusammen. Er „hat durch seine Unterstützung maßgeblich zur Realisierung des OV Arzt beigetragen“, wird ihn der Geheimdienst bei seiner Anwerbung zwei Jahre später als IM „Wolfgang Richter“ loben. Auch im Wohnumfeld sind jetzt mehrere Inoffizielle Mitarbeiter auf ihn angesetzt. Und Schäfer ist in der Klinik längst nicht der einzige Spitzel.

Zur Zersetzungstaktik des Machtapparats gehören die wöchentlichen Aussprachen beim Rat des Kreises, zu denen Nitschke erscheinen muss. Weil er von seinen Ausreiseplänen nicht abweicht, wird ihm immer wieder mit Verhaftung gedroht. „Man ist emsig bemüht, mich in einer nördlich von Berlin in Odernähe gelegenen Kleinstadt in gesicherten Verhältnissen unterzubringen“, schreibt er am 9. März an die Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt am Main, zu der er seit einigen Wochen Kontakt hat.

Die Frankfurter Gesellschaft plant Zeitungsartikel, Plakate und Flugblätter zum Fall Nitschke. Sie ist bekannt dafür, Unrecht in der DDR international öffentlich zu machen. Der Bundesregierung aber ist der Verein ein Dorn im Auge, weil sie die deutsch-deutschen Beziehungen durch spektakuläre Aktionen gefährdet sieht. Die Gesellschaft aber bleibt ihrer Devise treu: „Öffentlichkeit schützt!“

Sie organisiert wenige Wochen nach Bekanntwerden des Falls Nitschke eine Briefaktion für die Riesaer Familie. Der Verein mobilisiert Menschen aus der ganzen Bundesrepublik, die sich bei der DDR-Regierung für sie einsetzen. Der Staatsratsvorsitzende Willi Stoph erhält daraufhin in den nächsten Monaten eine ganze Flut an Unterstützungsschreiben, in denen Menschen aus Mainz, Arnsberg, Salzburg, Hilden, Düsseldorf und vielen anderen Städten mit Hinweis auf die Menschenrechts-Beschlüsse von Helsinki um die Ausreise der Familie bitten. Karl-Heinz Nitschke ist fest davon überzeugt, dass diese Vorgehensweise zielführend ist. Wie in seiner Konzeption geplant, „sollten die Organe der DDR immer wieder mit meiner Sache konfrontiert und zu einer für mich positiven Entscheidung gezwungen werden“.

Doch Dr. Karl-Heinz Nitschke ist ungeduldig. Er will den Druck von Riesa aus weiter erhöhen. Im Juni 1976 setzt er deshalb seine „Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte“ auf, in der er sich neben der KSZE-Schlussakte auch auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Verfassung der DDR beruft. Innerhalb weniger Wochen unterschreiben 79 Ausreiseantragssteller das heiße Dokument. Es soll die DDR dort treffen, wo es am meisten wehtut: in den westdeutschen Medien. Doch das Echo der überraschten Staatsmacht schallt noch brutal zurück.

Lesen Sie im nächsten Teil am Montag: Geschäftsführer Karl Hafen erklärt, wie die Gesellschaft für Menschenrechte den Menschen aus Riesa helfen konnte. Am Dienstag folgt dann der zweite Teil zur Riesaer Petition „Die Stasi schlägt zurück“.

Alle Teile dieser Serie finden Sie unter: www.szlink.de/stasi