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Richard Hauptmann hat wieder eine Stimme

Der Tod des Lindbergh-Babys und des Kamenzer Auswanderers sind „Jahrhundertverbrechen“. Eine Buch-Premiere.

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© Matthias Schumann

Von Frank Oehl

Viele Kamenzer werden sich an das Forum mit Robert R. Bryan im Kamenzer Ratssaal erinnern. Mehr als drei Jahre ist es her. Der Rechtsanwalt aus San Francisco hatte sich in Rage geredet, weil er Gerechtigkeit in einem Fall erhoffte, den er schon jahrzehntelang verfolgte. Am 3. April 1936 war der illegale Einwanderer Richard Hauptmann aus Kamenz in Trenton/New Jersey auf dem elektrischen Stuhl gestorben. Als mutmaßlicher Entführer und Mörder von Charles Lindbergh jr., dem Erstgeborenen des Flieger-Glamourpaares Anne und Charles Lindbergh. Der „Jahrhundertprozess“ sei selbst mit einem „Jahrhundertverbrechen“ zu Ende gegangen, so Bryan. Und der weltbekannte Gegner der Todesstrafe schlug vor, die Erinnerungen Hauptmanns zu veröffentlichen, die dieser in der Todeszelle geschrieben hatte. „Dort spricht einer aus dem Grab zu uns“, sagte Bryan, der von 1981 an die Witwe Hauptmanns bis zu deren Tod in der 90ern vertrat und auch seither unablässig für die Rehabilitierung des Kamenzers kämpft.

Jetzt hat Richard Hauptmann in der Tat wieder eine Stimme. Seine autobiografischen Notizen – vom 1. März bis 3. Mai 1935 zu Papier gebracht, können nun erstmals verbreitet werden. Am Dienstagabend gab es die Buchpremiere von „Jahrhundertverbrechen“ – sinnvollerweise mit der Finissage der Ausstellung „Draw Into“ von Tony Franz verbunden, der sich zeichnerisch mit dem Lindbergh-Hauptmann-Fall auseinandergesetzt hatte. Kern des 230-seitigen Paperbacks der Edition Sächsische Zeitung sind die Lebenserinnerungen Hauptmanns. Es enthält aber auch einordnende Begleittexte der Herausgeber, von Odette Künstler und Thomas Binder aus dem Stadtarchiv und vom Rechtsanwalt der Hauptmann-Witwe. Robert R. Bryan war in der Galerie der Kamenz-Info per Skype zugeschaltet. Ein Experiment, das technisch gelungen und emotional ergreifend war. „Ich danke allen, die in Kamenz an der Herausgabe des Buches mitgewirkt haben. Insbesondere Bürgermeister Roland Dantz“, sagte Bryan. Er erhofft sich neue Impulse für eine Wiederaufnahme eines Verfahrens, das von Anfang an umstritten war und durch die Recherchen des Kaliforniers längst an den Rand eines „Justizmordes“ gerückt werden kann. Besonders eindringlich ist die Erstveröffentlichung der letzten Worte Hauptmanns. Die etwa 15-seitige Replik „Ich wurde zum Tode verurteilt“ ist ein auch sprachlich bemerkenswertes Glaubensbekenntnis Hauptmanns an Wahrheit und Gerechtigkeit – wohlbemerkt im Schatten des elektrischen Stuhles, der ihm erspart geblieben wäre, wenn er mit den Ermittlern kooperiert hätte. Offensichtlich gab es nichts zu kooperieren, weil Hauptmann die Wahrheit gesagt hatte. Zum Alibi in der Tatnacht, zur unbewussten Lösegeldaufbewahrung für einen inzwischen verstorbenen Geschäftspartner oder zur angeblichen Zeugin einer früheren Lösegeldtransaktion in einem Kino, mit der die Anklage die Erklärung Hauptmanns erschüttern wollte. Die Ermittler hatte Belastungszeugen geschmiert und Indizien gefälscht, wie man heute sicher weiß. Und alle, die zu Hauptmanns Gunsten ausgesagt haben, wurden ignoriert. Hauptmann zählt sie alle noch einmal auf. „Ich hatte kein Geld, um diese Zeugen zu kaufen. Der Staat New Jersey gab Tausende von Dollar (dafür) aus“, klagte Hauptmann mit konkreten Beispielen. Die Einsicht in jahrzehntelang geheim gehaltene Aktenberge überzeugte nicht nur Rechtsanwalt Bryan von der Glaubwürdigkeit des Kamenzers, sondern 50 Jahre nach dessen Tod auch ein inoffizielles Gericht in San Francisco, das dem Staat New Jersey ein Rehabilitationsverfahren nahelegte.

Dazu ist es bisher nicht gekommen, und die Chancen dafür haben sich seit 1986 auch nicht verbessert. Umso wichtiger, dass Hauptmann, dem im Prozess allzu oft das Wort abgeschnitten worden war, nun erstmals in nennenswerter Auflage im Original zu lesen ist. Die Erinnerung an Kindheit und Jugend in Kamenz ist anrührend geschrieben, die Beschreibung der letzten Kriegstage bemerkenswert detailreich. Auch die dreifache Überfahrt des Auswanderers liest sich spannend. Und die beschriebene Begegnung Hauptmanns mit dem Lindbergh-Lösegeld-Unterhändler im Gefängnis ist schon beinahe eine Kabarett-Einlage, wenn sie nicht so traurig wäre. Dr. Condon erkennt erst bei der Gegenüberstellung vor Gericht in Hauptmann den Kindesentführer wieder. Bis dahin hatte er mehrfach den Kopf geschüttelt. Darüber wird der Leser wohl das Gleiche tun ...

„Jahrhundertverbrechen – Bruno Richard Hauptmann und die Entführung des Lindbergh-Babys“ Herausgeber Roland Dantz und Frank Oehl, 230 Seiten, 1. Auflage: 1800; 12,90 Euro; erhältlich in der Kamenz-Information, in den SZ-Treffpunkten oder über den Buchhandel; ISBN 978-3-943444-09-4 sowie im Internet über:

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