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Reise in eine andere Zeit

Zum Tag des offenen Denkmals öffnet Marcel Reichel seinen Russen-Bunker. Und zeigt seine neueste Erwerbung.

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© Klaus-Dieter Brühl

Von Catharina Karlshaus

Großenhain. Ein Schritt nach vorn ist viele zurück. Wenn Marcel Reichel den Schlüssel in Schlösser steckt, von denen jeder nur erahnt, dass es sie überhaupt gibt, er dann schließlich knarzend das grüne Stahltor öffnet – kann sie beginnen. Die Reise in eine andere Welt. Mit eingezogenem Kopf hinein in eine Zeit, in der die Großenhainer nur vermuten konnten, was sich hier befindet. Gewusst haben sie es nicht. So wie auch jene, die auf dem Gelände des 1913 errichteten und von der Sowjetarmee nach 1945 ausgebauten Flugplatzes arbeiteten. Die „Taubstummen“, so Militärhistoriker Marcel Reichel, würden sie bis heute genannt. Was im von der Öffentlichkeit streng abgeschirmten Areal, verborgen hinter Betonwänden und Stacheldraht, passiert, sollte niemand sehen. Vor allem in den zwei Bunkern des Typs „Granit“, welche von 1972 bis 1974 errichtet worden sind. Heimlich natürlich. Aus mehreren halbkreisförmigen und zu einer Röhre zusammengesetzten Fertigteilen, eigens aus Russland eingeflogen. „All jene, die wussten, was wirklich hier geschehen ist, was hier lagerte, nahmen und nehmen ihr Wissen mit ins Grab“, ist sich der 38-jährige Großenhainer sicher. Nicht umsonst sei die Genehmigung, sich den durch grüne Farbe getarnten Bunkern überhaupt nähern zu dürfen, bis zum Oktober 1989 ausschließlich aus dem Kreml in Moskau gekommen.

Marcel Reichel, der das Museum privat betreibt, zeigt hier sein neuestes Exponat: einen Schleudersitz aus den 70er und 80er Jahren, wie er in der MIG 21 und MIG 23 – die auch in Großenhain stationiert waren – eingebaut war.
Marcel Reichel, der das Museum privat betreibt, zeigt hier sein neuestes Exponat: einen Schleudersitz aus den 70er und 80er Jahren, wie er in der MIG 21 und MIG 23 – die auch in Großenhain stationiert waren – eingebaut war. © Klaus-Dieter Brühl

Eine Zustimmung, die der Neugierige längst nicht mehr braucht. Vonnöten für eine Expedition in die Vergangenheit ist 28 Jahre später immerhin Marcel Reichel. Der passionierte Hobbyforscher hat sich den Traum erfüllt und die 2004 unter Denkmalschutz gestellte Bunkeranlage gekauft. Er ist es, der Besucher durch das knarzende grüne Stahltor leitet und ihnen jenen Aha-Moment beschert. Dann nämlich, wenn sie tatsächlich drin stehen. Drin im vermeintlichen Atom-Bunker der Russen. In der Nase ein Gemisch aus Maschinenöl, die Augen gerichtet nach vorn ins 26 Meter lange halbrunde Gebilde und im Kopf ein Stummfilmmix aus Thriller und Geschichtsepos. Hier soll es also wirklich gewesen sein! Irgendwo in diesem Bunker haben sie gestanden. Sechs Holzkisten, in denen womöglich alles lagerte, was es brauchte, um eine funktionsfähige Atombombe zusammenzubauen. Oder doch nicht? „Keiner wird Ihnen darauf jemals eine eindeutige Antwort geben! Auf jeden Fall wurde hier drinnen etwas aufbewahrt, das niemals nach draußen gelangen durfte. Mehr noch. Niemand sollte überhaupt auf die Idee kommen, dass hier etwas ist“, erzählt Marcel Reichel. Nicht grundlos seien die Betonwände schließlich 70 Zentimeter dick. Ein Vorraum und zwei Türen sorgten nicht durch Zufall dafür, dass kein Licht nach draußen dringt. Aus dem Inneren des Dreiviertelkreises, in welchem das Thermometer stets zwölf Grad anzeigt – egal, zu welcher Jahreszeit. Gleich wofür.

Dass Marcel Reichel gut vier Jahre brauchte, bevor er Schaulustigen überhaupt den gefahrlosen Zutritt ermöglichen kann, lässt sich mittlerweile nur noch erahnen. Stühle und eine Leinwand nebst Filmvorführgerät ermuntern inzwischen zum Verweilen wie zahlreiche Exponate, die über die wechselvolle Geschichte des Großenhainer Flugplatzes erzählen. Mehr noch. Obgleich noch immer im Verborgenen, lockt das Bauwerk Interessierte, Fans, aber auch Mitglieder von Geheimdiensten aus aller Welt an. Vertreter des russischen KGB zwängten sich ebenso schon durch das grüne Stahltor wie Herren des Auslandsgeheimdienstes der Vereinigten Staaten CIA oder einer Abordnung des amerikanischen Verteidigungsministeriums Pentagon. „Man darf nicht vergessen, dass dieser Bunker der Einzige von ehemals zehn in der DDR befindlichen ist, der noch funktioniert. Und man muss wissen, dass europaweit verteilt, noch Gleichartige stehen. Womöglich in Betrieb“, sagt Marcel Reichel und schaut verschwörerisch.

Seine neueste Errungenschaft: Ein sowjetischer Schleudersitz, der ab 1965 bei verschiedenen Flugzeugen der Reihe MIG serienmäßig verwendet wurde. Eigens aus Holland habe er den mehrere hundert Kilo schweren Lebensretter mit einem kleinen VW-Polo – dessen Sitze deshalb wiederum ausgebaut werden mussten – ins beschauliche Großenhain transportiert. Ein Katapultsitz als Rettungssystem, der einem Piloten aus bis zu 20 Kilometer Höhe und einer Geschwindigkeit von 130 bis 1 200 Kilometer pro Stunde den Ausstieg ermöglicht. Kein Wunder, besitzt er doch als Antrieb einen Raketenmotor. „Ein Pilot darf höchstens zweimal in seinem Leben auf diese Weise aus dem Flugzeug aussteigen! Er muss das 35-fache der Erdanziehungskraft aushalten, und es wirken so starke Kräfte, dass ihn das gesundheitlich schädigen würde“, gibt Marcel Reichel zu bedenken. Geschichten wie diese wird er am Sonntag anlässlich des Tages des offenen Denkmals zwischen 13 und 17 Uhr seinen Gästen erzählen. Dann, wenn sich die Schlüssel in den verborgenen Schlössern gedreht und sich das grüne Stahltor knarzend geöffnet hat, geht es nach vorn. Und weit zurück.