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„Realitätsverlust made in Kamenz“

WBG-Vorstand Henry Schmidt weist Aussagen der Stadtspitze zur Fichtestraße zurück. Dass sie zu bleibt, sei ein Skandal.

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© Wolfgang Wittchen

Kamenz. In der Einwohnerversammlung zur Stadtentwicklung im Ratssaal hat OB Roland Dantz in der vergangenen Woche die seit 20 Jahren abgehängte Fichtestraße auch mit dem Verweis auf die Wohnungsbaugenossenschaft Kamenz (WBG) verteidigt, die hier nicht nur ihren Sitz hat, sondern auch einen Großteil ihres Wohnungsbestandes vorhält. Selbst die Genossenschaft habe den Nachweis nicht erbringen können, dass die Abhängung von Kamenz-Ost signifikante Mitgliederverluste mit sich gebracht habe, sagte Dantz sinngemäß. Die SZ sprach dazu mit Henry Schmidt, Vorstand der WBG:

Henry Schmidt, ist Vorstand der Wohnungsbaugenossenschaft Kamenz (WBG).
Henry Schmidt, ist Vorstand der Wohnungsbaugenossenschaft Kamenz (WBG). © Kerstin Unterstein

Herr Schmidt, stimmt die Aussage des Oberbürgermeisters?

Jedenfalls nicht im Zusammenhang mit der Fichtestraße. Im Grunde lobt uns der OB für unsere großen Anstrengungen am Kamenzer Wohnungsmarkt insgesamt. In der Tat geben wir auf dem Quadratmeter im Vergleich mit unseren Mitbewerbern etwa dreimal so viel Geld aus für die Schaffung von attraktivem Wohnraum. Wir sind nach wie vor erfolgreich – trotz, nicht wegen der Fichtestraße. Dass sie immer noch abgehängt ist, ist im Grunde ein Skandal.

OB Dantz hat die Fichtestraße jetzt im vollen Ratssaal als ein Wahlkampfthema bezeichnet ...

Das ist Realitätsverlust made in Kamenz. Der Einzige, der die Wiederanbindung eines großen Stadtgebietes an die Innenstadt als ein Wahlkampfthema abtut, ist offenbar der OB selbst. Im letzten Wahlkampf hatte Roland Dantz die Wiederöffnung der Fichtestraße im Jahr 2011 versprochen. Jetzt sind wir fünf Jahre weiter, und nichts hat sich getan. Es wurden Steuergelder für Planungen verschwendet, die nicht nötig sind – und jetzt wird gerade die nächste Planrunde eingeläutet.

Was wäre Ihrer Meinung nach nötig?

Die verkehrsberuhigte Wiederanbindung der hinteren Fichtestraße an die vordere ist mit moderaten Eingriffen in Park- und Grünraum möglich, wie auch die Verkehrsplaner nachgewiesen haben. Es bräuchte, wenn man es nur wöllte, keinen Blockabriss und keine Baumfällung. Der OB legt die Latte aber bewusst so hoch, um den Zustand, wie er jetzt ist, beibehalten zu können. Das ist leicht zu durchschauen.

Die Rathausspitze beruft sich auf die Bürgerbeteiligung zu den ausgelegten Planentwürfen, die im Grunde eine Pattsituation zwischen Gegnern und Befürwortern der Öffnung ergeben habe. Ein 50:50 in der Gemengelage macht eine Entscheidung nicht leichter ...

Wenn man noch 20 Jahre wartet, wird sich das Thema auf demografischen Weise gegen den abgehängten Teil ganz erledigt haben. Natürlich hat die Abkopplung des Hauptteiles des Wohngebietes auch Vorteile gebracht – allerdings nur für einen deutlich kleineren Teil der Mieterschaft im vorderen Teil der Fichtestraße.

Vize-Bürgermeister Jörg Bäuerle verwies im Ratssaal auf die Entscheidungshoheit des Stadtrates, der sich vor 20 Jahren durchaus auf den Bürgerwillen in Kamenz-Ost berufen habe ...

Das ist der gleiche Realitätsverlust. Die Abhängung der Fichtestraße geschah ohne Bürgerbeteiligung und traf sofort auf den Protest aus dem Wohngebiet. Das weiß der damalige Bauamtsleiter, und das müsste auch der heutige OB-Stellvertreter wissen. Am 23. April 1997 wurden zehn Unterschriftslisten im Rathaus übergeben – einer Bürgerpetition, die jene Kritikpunkte benannte, die sich bis heute als vollkommen zutreffend erwiesen haben.

Die Schule in der Fichtestraße tauchte in der Petition damals nicht auf. Hier gibt es heute große Vorbehalte gegen eine Wiederöffnung. Im Namen der Sicherheit der Schulkinder ...

Natürlich ist Schulwegsicherheit ein Thema, es kann aber nicht das einzige relevante sein. Die Grundschule am Forst ist mit der Umverlegung des Zugangsbereiches auf den Hinterhof kaum noch von dem berührt, was auf der Fichtestraße passiert. Eine verkehrsberuhigte Wiederöffnung zum Beispiel mit Fahrbahneinengung, Bodenwellen und Schrittverkehr würde keine Verschlechterung mit sich bringen, dafür aber kurze Wege der Bewohner. Dass dies – Stichwort -Ausstoß – auch umweltpolitische Relevanz hat, könnte man, wenn man nur wöllte, auch Viertklässlern und ihren Eltern durchaus nahe bringen.

Wird sich Ihr Unternehmen weiter in den Klärungsprozess einbringen?

Das haben wir immer getan, solange unser Mitdenken noch gefragt war. Ich erinnere an das erste Stadtentwicklungskonzept im Jahr 2002. Wir haben damals als WBG mitgewirkt und anschließend unsere Hausaufgaben gemacht und sind mit dem geordneten Wohnungsabriss vorangegangen. Mittlerweile hat sich die Herangehensweise an die Stadtentwicklung aber geändert. Seit geraumer Zeit werden Konzepte und Pläne für viel Geld erstellt, und danach können wir eine Stellungnahme dazu abgeben. Richtig wäre es, uns und die Bürgerschaft schon in die Ideenfindung einzubeziehen. Das scheint auch der Wille der Kamenzer selbst zu sein, wenn ich die Entwicklung der letzten Wochen sehe. Oder meint jemand, wir hätten schon Wahlkampf?

Die Stadt braucht ein positives Herangehen an die Zukunft, so der OB zuletzt mehrfach. Sehen Sie das anders?

Nein, ich sehe nur – außer beim Schulstandort – bisher keine weitreichenden Visionen. Die Stadt ist für junge Leute nicht attraktiv, und sie lässt sich auch nicht schönreden. Drei Wochen Rhododendrenblüte und eine Woche Forstfest reichen nicht. Wo wollen wir 2030 sein? Wird es dann eine Umgehungsstraße von Süden für die Entlastung der Pulsnitzer Straße geben? Werden wir es in eine VVO-Zone mit Pulsnitz geschafft haben? Werden wir den Ladensterben-Dominoeffekt auf der Bautzner Straße abgewendet haben? Diese und viele andere Fragen brauchen Antworten.

Gespräch: Frank Oehl