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„Ratschläge sind immer auch Schläge“

Ruder-Olympiasieger Walter Dießner redete seinem Sohn Jörg nicht rein. Der wurde trotzdem Weltmeister.

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© dpa

Von Jochen Mayer

Eltern wollen immer das Beste für ihre Kinder. Deshalb hätte es Walter Dießner gerne gesehen, wenn Sohn Jörg Fußballer geworden wäre. „Er war begabt, hatte ein tolles Ballgefühl“, erzählt der 62-Jährige in seinem Meißner Haus mit Blick ins Elbtal. „Zwei Vereine standen vor der Tür, Fußball und Tennis. Aber er ging zum Rudern.“

Urlaubsvergnügen: Olympiasieger Walter Dießner gibt bei einer Wanderfahrt auf Berliner Gewässern Sohn Jörg Techniktipps zum Rudern. Tochter Rita ruht sich lieber aus.
Urlaubsvergnügen: Olympiasieger Walter Dießner gibt bei einer Wanderfahrt auf Berliner Gewässern Sohn Jörg Techniktipps zum Rudern. Tochter Rita ruht sich lieber aus. © privat

Steine legte der Vater ihm nicht in den Weg. Aber der Olympiasieger und Olympiazweite sowie vierfache Weltmeister im Vierer mit Steuermann – in dem auch Zwillingsbruder Ulli saß –, wusste genau, was eine Kraftausdauer-Sportart bedeutet: viel Aufwand. Mitleid nennt er es nicht, was er spürte. Aber wenn der Sohn vor der Schule in der Garage auf dem Ergometer losmachte, nach dem Unterricht nach Dresden zum Training fuhr, kam Respekt auf. „Da gehört viel Willen dazu“, klingt es stolz.

Jörg Dießner ist dankbar, dass der Vater ihn machen ließ. „Ich weiß nicht, ob es beim Fußball am Ende so funktioniert hätte wie beim Rudern“, sagt der 40-Jährige am Telefon. Als Steppke geht man eben mit dem Vater mit. Bei Gesprächen unter den Brüdern staunte er über die Geschichten. In Familie wurde immer gerudert – mit Onkel und Cousin. Auch heute steigen sie ab und zu gemeinsam ins Boot und genießen.

Für Rudern entschied sich Jörg Dießner, weil es ihm zunehmend Spaß machte. Dabei lernte er die System-Unterschiede kennen: „Vater konnte Tag und Nacht trainieren. Was er das ganze Jahr hatte, gab es bei mir zweimal jährlich im Trainingslager. Doch wenn ich mehr trainiert hätte, wäre ich zu nichts anderem mehr gekommen. Und ob es der Körper geschafft hätte?“ Spekulationen liegen allen Dießners nicht.

Die neuen Zeiten hatten auch Gutes. Denn eigentlich ist Jörg Dießner zu schmal für einen Elitemann und wäre zu DDR-Zeiten nicht als Ruderer gesichtet worden. Er ignorierte alle Skeptiker, ließ sich nicht abwimmeln. „Meine beiden Schwestern waren aber talentierter als ich“, sagt der große Bruder. „Bei ihnen sprang der Funke nicht über.“ Der Vater „bedauerte zwar ein bissel“, dass die Töchter abwinkten. „Sie sind anders fixiert, wollten ihren eigenen Weg gehen. Ich habe sie machen lassen.“ Jetzt hat er fünf Enkel, sein Bruder Ulli vier.

Walter Dießner spricht immer Klartext. Der Werkzeugmacher, der zum Bäckermeister umschulte, den Familienbetrieb seiner Frau übernahm, weiß, was Arbeiten bedeutet. 2 Uhr beginnt sein Tag in der Meißner Backstube. Und er kann fachsimpeln über Massenware und seine Brötchen, die mit Familienrezepten per Hand entstehen. Er spürte auch, was Globalisierung für sein Handwerk bedeutet: Drei Filialen mussten schließen. Doch er jammert nicht.

Einblicke in den Sport von heute verschaffte ihm der Sohn – eine fremde Welt, besonders beim Kampf um Auswahlplätze. „Da wird getrickst und hintenrum gearbeitet“, sagt Walter Dießner. „Kungelei war nie was für mich.“ Und er ist der Dresdner Trainerin seines Sohnes dankbar: „Brigitte Bielig hat sich immer vor ihre Athleten gestellt.“ Als Vater biss er sich oft auf die Zunge. Aber er wusste: „Schlimm ist, wenn sich Eltern mit Ratschlägen einmischen. Ratschläge sind immer auch Schläge.“

Und doch wunderte er sich über das heutige Pensum, denkt sich seinen Teil. „Wir sind früh raus auf die Elbe, von Cotta zum Fernsehturm und zurück“, erzählt er. „Das war das erste Training – bis sieben Grad minus. Die Elbe fror ja nicht zu, war damals genug Chemie drin.“ Was ihn nun aufregt, sind Klagen über schlechte Bedingungen. „Quatsch“, knurrt er. „Viele Kadersportler sind abgesichert. Sie dürfen sich nur nicht am Fußball orientieren. Was mich ärgert, ist die Unterstützung an der Basis. Dort muss die Förderung ansetzen.“

Sein Sohn erlebte Tiefs, war aus dem Kader geflogen, hatte sich aber durchgebissen bis zum Achter-Weltmeister. Und doch gab es zum Karriereende das bittere Olympia-Aus 2008. „Um diese Chance hätte er mehr kämpfen müssen, eine interne Ausscheidung einklagen können“, glaubt der Vater. Über die Enttäuschung redet der Sohn nun ruhig: „Heute würde die Entscheidung anders fallen. Wir haben damals auch nicht alles richtig gemacht.“ Die Vizeweltmeister waren vor Peking ausgetauscht worden. Trotzdem sagt Jörg Dießner: „Ich bin mit mir im Reinen. Vielleicht waren wir zur WM dreimal zu oft Zweiter.“

Nächste Woche ist Walter Dießner 50 Jahre im Meißner Ruderverein. Dort gibt er weiter, was er weiß, unterstützt Anna Forberger, Tochter von Frank Forberger aus dem Dresdner Olympiasieger-Vierer, sowie dessen Enkel Julius Forberger. Sie betreuen den Vereinsnachwuchs, waren am Wochenende von Usti nach Meißen gerudert. „Wir sahen die Laubfärbung, die Häuschen, die Leute“, schwärmt Walter Dießner. „Das ist so lieblich, strahlt Zufriedenheit aus. Und wir waren körperlich aktiv. Das vergisst keiner.“ Er weiß, dass sich Eltern freuen, weil der Verein etwas für die Erziehung tut mit Teamgeist und Disziplin.

Und Walter Dießner bringt Späteinsteigern Rudern bei, ist im Boot unterwegs, radelt, weil er weiß, dass Aktivität ein Lebenselixier ist. Er übertreibt nicht, genießt sein Elbtal. Dagegen sagt sein Sohn: „Langsamrudern ist nicht mein Ding. Da will ich mal hinkommen. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Vater mal gemütlich unterwegs sein kann.“ Langsam bedeutet für Jörg Dießner: Es läuft nicht. Er fährt ambitioniert in der Achter-Bundesliga für Wanne-Eikel.

Vor zwei Jahren war Jörg Dießner nach Bochum gewechselt. Seine Frau zog es zurück in die Heimat. Ihm fiel der Ortswechsel nicht so schwer, weil in der Region viele Ex-Kollegen aus dem Auswahlachter wohnen. Dafür musste Jörg Dießner als Laufbahnberater beim Dresdner Olympiastützpunkt aufhören. Jetzt arbeitet er als Online-Redakteur in Dortmund. Die nächste Herausforderung ist der Skimarathon in Davos. Die Achter-Jungs waren dort oft im Höhenlager. Nun treffen sie sich wieder. Jörg Dießner ist dann der Motzki, wie er sagt. „Ich bin im normalen Leben nicht so, aber wenn der Puls hoch ist, kann ich sehr kritisch sein.“ Für seinen Vater brechen schwere Monate an, wenn die Boote winterfest gemacht werden, die Elbe tabu ist. „Das ist die härteste Zeit für Ruderer.“

Morgen lesen Sie die Geschichte von Paul und Paule – der Dynamo-Profi und sein berühmter Vater.