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Radebeul und Coswig zehren von Dresden

Eine neue Studie zeigt, welche Orte besonders wachsen oder schrumpfen – und liefert einige verblüffende Erklärungen.

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© Arvid Müller

Von Sebastian Kositz und Stefan Lehmann

Landkreis. Arm, aber sexy – mit diesem Image schmückt sich Berlin mittlerweile seit Jahren. Der Landkreis Meißen kann das in weiten Teilen nicht von sich behaupten. Zu diesem zunächst wenig überraschenden Ergebnis kommt eine neue Studie des Forschungs- und Beratungsinstituts Empirica. Im Auftrag der landeseigenen Aufbaubank sowie der beiden sächsischen Verbände der Wohnungsgenossenschaften und der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft haben Fachleute die Wanderungsbewegungen innerhalb Sachsens näher beleuchtet. Doch die Experten liefern auch überraschende Erklärungsansätze und stellen drastische Forderungen auf. Die Sächsische Zeitung stellt die Kernaussagen der Studie vor.

Die allgemeine Lage: Die ländlichen Regionen verlieren, die Städte wachsen

Beinah flächendeckend kehren die Menschen der Region den Rücken, kaum ein Ort, der in den vergangenen Jahren in der Summe Boden gutgemacht hat. Insoweit unterscheidet sich der Landkreis Meißen nicht von anderen Gebieten in Sachsen. Die Kreise verlieren im großen Stil Einwohner – zugunsten der großen Städte Leipzig und Dresden, die unaufhaltsam wachsen. Als begehrte Zuzugsorte gelten mit Abstrichen indes auch Chemnitz und Freiberg.

Die Situation im Kreis: Nähe zu Dresden macht sich bemerkbar

Beim Blick auf den Landkreis fällt ein leichtes Nord-Süd-Gefälle auf: Während Weinböhla, Coswig und Radebeul von der Nähe zu Dresden profitieren, nimmt dieser Effekt in Richtung Norden ab. Auch die Mittelzentren Riesa und Großenhain verlieren Einwohner. Von allen Städten mit mehr als 20 000 Einwohnern landet Riesa sogar nur auf dem drittletzten Platz: Von 100 Einwohnern, die in Riesa geboren wurden, verlassen laut der Studie 38 die Stadt. Trotzdem schrumpft Riesa damit deutlich weniger als beispielsweise Schlusslicht Hirschstein. Ausnahmen im Norden des Kreises sind Wülknitz und Glaubitz. Von einer Zuzugsbewegung möchten die Forscher aber auch hier nicht sprechen. Die Rede ist von Sondereffekten, wie sie etwa in der Gemeinde Glaubitz durch die JVA entstehen.

Die Erklärung: Das Problem sind nicht allein die Arbeitsplätze

Oft ist das Ausbluten der Region bisher mit dem geringen Arbeitsplatzangebot begründet worden. Um die Abwanderung, insbesondere der jüngeren Menschen, zu erklären, taugt das aber aus Sicht der Forscher nicht. Vielmehr gewönnen Großstädte „mehr Beschäftigte hinzu als Arbeitsplätze entstehen, während es in den Abwanderungsregionen gegensätzlich ist.“ Die Experten verweisen auf den Pillenknick: Der habe dazu geführt, dass in den jüngeren Generationen weniger Gleichaltrige in einem Dorf oder einer Stadt wohnen. So werde es für sie schwieriger, Menschen mit gleichen Interessen zu treffen, zudem verschwinden vor Ort immer mehr Angebote wie Kinos, Kneipen oder Sportvereine. Für die Fachleute ist klar: Die dünn besetzten Generationen „rotten“ sich deshalb in den Städten regelrecht zusammen. Selbst wenn stetig neue Jobs im Kreis Meißen entstehen, profitierten davon vor allem Dresden und Leipzig. Denn die Arbeitnehmer pendeln lieber in den ländlichen Raum, als die Vorzüge der Großstadt aufzugeben.

Die Chancen: Meißen ist ein Leuchtturm für das Hinterland

Auch wenn der Landkreis insgesamt schrumpft, gibt es einige Lichtblicke. Radebeul profitiert beispielsweise von der Nähe zur Großstadt, ebenso wie mit Abstrichen Coswig und Weinböhla. Das gute Abschneiden von Meißen führen die Forscher dagegen nicht mehr auf einen solchen Effekt zurück. Sie gehen davon aus, dass die Stadt über eine eigene Anziehungskraft verfügt und die Menschen deshalb zumindest aus dem Hinterland dorthin ziehen.

Die Forderungen: „Sterbebegleitung“ für Dörfer und Stärkung der Zentren

Die Entwicklung mit aller Macht aufhalten zu wollen, halten die Experten für unwirtschaftlich. Sie fordern eine Konzentration auf bestimmte Städte. Die müssten gezielt gestärkt werden: Einzelhandel, Verwaltung, Gesundheit – „alles auf einen Haufen“, fordert Professor Harald Simons von Empirica. Denkbar seien auch Eigenheimzulagen und höhere Fördersätze, damit die Mittelzentren gegen Großstädte eine Chance haben. Wenn es einer Stadt nicht gelinge, sich gegen eine andere durchzusetzen, blieben beide schwach, so die Forscher. Das sei wohl auch ein Grund, warum es in der Region Oschatz/Riesa/Großenhain keine Stadt geschafft habe, „Einwohner anzuziehen und an Zentralität zu gewinnen“. Bei den ausblutenden Orten plädiert Harald Simons für eine „Sterbebegleitung“: Wenn die Dorfstraße kaputt ist, „muss ich sie nicht mehr ausbauen, es genügt zu schottern.“ Es gehe darum, die Härten, die mit dem Aussterben der Gemeinden für die noch vorhandenen Bewohner verbunden sind, zu mindern, ohne falsche Hoffnungen zu wecken.