Merken

Pulverdampf über Nagorny Karabach

Im Konflikt um das umstrittene Gebiet im Kaukasus droht eine Eskalation. Armenien und Aserbaidschan haben aufgerüstet.

Teilen
Folgen
NEU!
© dpa

Dr. Uwe Halbach arbeitet in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er befasst sich mit dem Kaukasus.

Herr Halbach, der Kampf um Nagorny Karabach gehörte zu den Konflikten, die jahrelang „eingefroren“ waren. Warum ist er jetzt wieder ausgebrochen?

Weil er eben nicht „eingefroren“ war. Der Zustand des „Eingefrorenseins“ steht im Karabach-Konflikt seit Langem infrage. Denn an der Waffenstillstandslinie von 1994 hat es immer wieder bewaffnete Zwischenfälle gegeben. Insofern kommt auch die Eskalation keineswegs überraschend. Aber: Der jüngste Zwischenfall ist der bislang schwerste, was die Intensität, die eingesetzten Waffen und die Zahl der Todesopfer betrifft.

Warum hat das Bischkek-Protokoll von 1994 keine dauerhafte Lösung gebracht?

Was damals fehlte, waren gegenseitige Friedenserklärungen. Es war eine Vereinbarung über einen Waffenstillstand, aber keine Friedensregelung. Zudem fehlten internationale Friedenstruppen, die den Waffenstillstand überwachten. In Bezug auf Karabach blieb es im Verhältnis zwischen Armenien und Aserbaidschan bei einem Zustand, der sich weder mit Krieg noch mit Frieden umschreiben lässt. Unter Vermittlung der Minsker Gruppe – Russland, USA und Frankreich – gab es mehrfach Hoffnung auf einen politischen Durchbruch, was aber immer wieder dementiert wurde.

Lässt sich der Konflikt nur als eine Spätfolge der Politik Stalins im Kaukasus erklären ?

Die meisten Konflikte der postsowjetischen Ära haben etwas zu tun mit der Territorial- und Nationalitätenpolitik des Kreml – mit dem „Matroschka-Modell“ von nationaler Staatlichkeit, also die Sowjetunion als Ganzes, dann die Unionsrepubliken, schließlich die autonomen Republiken und Gebiete. Nagorny Karabach ist ein solches Konstrukt. Es war Aserbaidschan unterstellt worden, obwohl seine Bevölkerung mehrheitlich armenisch ist. Das sowjetische Staatsmodell ist ein wesentlicher struktureller Faktor für den Konflikt. Doch der armenisch-aserbaidschanische Gegensatz reicht weiter zurück – in die Jahre 1905 und 1918, als es zu blutigen Unruhen zwischen beiden Volksgruppen kam.

Welche Interessen hat Russland als Schutzmacht Armeniens?

Russland hat kein Interesse an einem zweiten Karabach-Krieg. Deshalb ermahnte es beide Seiten, es nicht zu einer weiteren Eskalation kommen zu lassen. Aber Moskau spielt dennoch eine ambivalente Rolle. Einerseits hat Russland immer wieder diplomatische Initiativen für eine Lösung ergriffen, andererseits ist es strategischer Verbündeter Armeniens. Die russische Armee besitzt dort einen Stützpunkt und etwa 5 000 Soldaten. Gleichzeitig ist Russland aber auch der wichtigste Waffenlieferant für Aserbaidschan. Die Regierung in Baku hat in den letzten Jahren gut 80 Prozent seiner Rüstungsimporte aus Russland bezogen.

Aserbaidschan hat mit der Türkei einen starken Verbündeten. Besteht die Gefahr, dass sich der Konflikt zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Türkei auswächst?

Darüber wird viel spekuliert. Aber Russland und die Türkei haben ganz unterschiedlich auf die Eskalation reagiert. Moskau nahm nicht einseitig Partei für die Armenier, sondern wirkte beschwichtigend auf beide Konfliktparteien ein – im Einklang mit Uno und Europäischer Union. Dagegen reagierte der türkische Staatschef Erdogan einseitig. Er hat den Tod aserbaidschanischer Soldaten bedauert und versichert, die Türkei stünde bis „zum Ende“ auf der Seite Aserbaidschans. Das hat natürlich etwas zu tun mit dem Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien, das wegen des Genozids von 1915 zutiefst gestört ist.

Inwiefern könnte der Konflikt gefährlich für die gesamte Region oder gar Europa werden?

Wenn es zu einem zweiten Karabach-Krieg kommen sollte, dann würde das die gesamte Region Süd-Kaukasus erschüttern. Denn es ist absehbar, dass der Krieg auf einer weitaus höheren Stufe militärischer Aufrüstung ausgetragen würde als der erste von 1991–1994. Denn seitdem hat es eine massive Aufrüstung gegeben; in Armenien, aber vor allem in Aserbaidschan. Unter Staatschef Ilcham Alijew wurde der Militäretat um ein Vielfaches gesteigert. Es gibt auf beiden Seiten einen alarmierend hohen Grad an Militarisierung. Übrigens auch in Nagorny Karabach selbst. Von den etwa 140 000 Bewohnern stehen 20 000 Mann unter Waffen. Hinzu kommen 30 000 Reservisten. Das bedeutet, dass der überwiegende Teil der männlichen Bevölkerung zum Kampf bereitsteht.

Wie müsste eine politische Lösung aussehen?

Zunächst geht es jetzt um Schadensbegrenzung; also darum, eine weitere militärische Eskalation zu verhindern. Über eine politische Lösung wird seit 22 Jahren gerungen. Seit 2007 liegen die sogenannten Madrider Prinzipien auf dem Verhandlungstisch. Sie sollen Grundlage einer politischen Lösung sein, bleiben aber umstritten. Ein Friedensvertrag ist nicht in Sicht.

Liegt das auch daran, dass völlig unklar ist, was aus den besetzen Gebieten rund um Nagorny Karabach wird?

Das ist ein wichtiger Punkt. Denn es geht in der Umgebung von Nagorny Karabach um sieben aserbaidschanische Provinzen, die von Armenien kontrolliert werden. Der Großteil der Flüchtlinge stammt aus diesen Gebieten, nicht aus Nagorny Karabach. Das ist eine humanitäre Katastrophe für Aserbaidschan. Eine Lösung muss den Truppenrückzug Armeniens aus diesen Gebieten einschließen.

Wäre es sinnvoll, Nagorny Karabach einen weitgehenden Autonomiestatus zu geben?

Es gibt Vorschläge, Nagorny Karabach wie Kosovo zu behandeln. Das aber würde Aserbaidschan nicht akzeptieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Karabach freiwillig unter aserbaidschanische Staatshoheit zurückkehrt. Die Bevölkerung besteht zu fast 100 Prozent aus Armeniern. Und eine erzwungene Rückkehr will ich mir nicht vorstellen. Das würde Krieg bedeuten.

Das Gespräch führte Frank Grubitzsch