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Powerfrau zwischen Labor und Familie

Mit 100 Jahren blickt Susanne Anschütz auf ihr Leben zurück. Anstrengende Wege hat sie dabei nie gescheut.

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© Sven Ellger

Von Nora Domschke

Ihre Augen strahlen. „Sie sind aber ein hübscher, junger Mann“, begrüßt Susanne Anschütz den Fotografen, lächelt ihn verschmitzt an. Der Mittdreißiger könnte gut ihr Urenkel sein – er ist 65 Jahre jünger als sie. Die Seniorin feierte am Donnerstag vergangener Woche ihren 100. Geburtstag. Für jüngere Generationen ist es wohl kaum vorstellbar, wie sich das anfühlen muss: Im Kaiserreich geboren, in der Weimarer Republik aufgewachsen, unter den Nationalsozialisten den Zweiten Weltkrieg erlebt, im DDR-Regime mit der Mangelwirtschaft zurechtgekommen. Und heute? „Ich kann zwar alles kaufen. Mit allem einverstanden bin ich trotzdem nicht!“

In ihren Worten keine Spur von Zögern, lange überlegen muss Susanne Anschütz nicht, wenn sie Fragen beantwortet. Beim genaueren Blick in ihr Gesicht zeichnet sich vielleicht etwas Müdigkeit ab. „Ja, 100 Jahre alt zu werden, ist anstrengend“, sagt sie wie zur Bestätigung. Aber nur, weil dann so viele Leute vorbeikommen, ergänzt sie. An ihrem Geburtstag klingelt es tagsüber unentwegt an der Wohnungstür, Freunde und Verwandte kommen und gehen, hinterlassen herzliche Glückwünsche und ein ganzes Meer an Blumen. Am Sonnabend folgt die Feier mit der Familie, noch einmal 40 Gäste. „Nun reicht es aber.“

Täglich sieben Stunden Fußweg

Die Blumen stehen jetzt, gut eine Woche später, noch immer auf dem Balkon ihrer Grunaer Wohnung in der Rosenbergstraße. Dort lebt sie allein, ein Pflegeheimplatz ist zwar Thema, aber noch nicht spruchreif. Für das Interview mit der Sächsischen Zeitung nimmt sich Susanne Anschütz – obwohl sie alles schon so oft erzählt hat – trotzdem Zeit, spricht über ihr Leben, ihre Familie, ihren Beruf. Ihr Sohn Niels, selbst „erst 74 Jahre jung“, sitzt mit am Tisch, auf dem alte Fotos liegen. Nötig ist seine Unterstützung nicht. Susanne Anschütz hat ein bemerkenswertes Gedächtnis, erinnert sich an Ereignisse vor wenigen Tagen genauso präzise wie an Erlebnisse in den 1940er-Jahren. Namen sprudeln aus ihr heraus, manchmal diskutiert sie mit ihrem Sohn, wie das alles war. Meistens gibt er nach. „Solange sie noch streitet, weiß ich, dass es ihr gut geht“, sagt er lachend.

Niels Anschütz wohnt in Dippoldiswalde, zweimal in der Woche besucht er seine Mutter in Dresden, an einem Tag bekommt sie Hilfe von einer Haushälterin. Ansonsten ist die Rentnerin auch mit 100 noch irgendwie Powerfrau. Geistig auf jeden Fall, körperlich lässt das Gehör etwas nach. „Sprechen Sie doch etwas lauter, junge Frau!“

Bestimmt, aber freundlich – so kennt auch ihre Schülerin und spätere Kollegin Manina Dageför ihre Mentorin. Im Krankenhaus Friedrichstadt begründete Susanne Anschütz die Ausbildung der medizinisch-technischen Assistenten in Dresden. Das Wissen brachte die gelernte Laborantin aus Breslau mit, ihrer Geburtsstadt, aus der sie mit ihrem einjährigen Sohn Niels und den Eltern im Januar 1945 fliehen musste. Ein Schicksalsschlag folgte damals auf den nächsten: Kurz zuvor erlag ihr Mann in einem Prager Lazarett einer Blutvergiftung. Noch am Neujahrstag 1945 war Susanne Anschütz zu ihm ins Lazarett gereist, vier Tage darauf starb er. Sie ist schwanger.

Wenige Monate später, am 7. Mai, einen Tag vor Kriegsende, kommt ihr zweiter Sohn auf die Welt. Die Urne mit der Asche ihres Mannes nimmt Susanne Anschütz von Prag über Breslau mit nach Dresden. „Im Rucksack.“ Nach der Flucht aus Breslau kommt die Familie in der Wohnung ihrer Schwiegereltern auf der Nürnberger Straße unter. Im Februar müssen sie wieder fliehen – vor den alliierten Bomben, die auf Dresden fallen. Die Gruppe läuft Richtung Freital bis nach Borlas im Tharandter Wald.

Die Strecke von dort nach Dresden wird über ein Jahr der Arbeitsweg von Susanne Anschütz sein. Mit dem Zug; wenn der nicht fuhr, zu Fuß – dreieinhalb Stunden eine Strecke. Ihre Eltern kümmern sich um die beiden kleinen Söhne. Nach mehreren beruflichen Stationen bekommt die junge Frau die Chance, die Medizinische Berufsfachschule in Friedrichstadt mit aufzubauen. Die Räume werden 1951 in der Pathologie des Krankenhauses eingerichtet, später zieht die Schule auf die Bodelschwinghstraße in der Nähe des Emerich-Ambros-Ufers um. „Die Laboreinrichtung habe ich auf dem Millimeterpapier entworfen“, erinnert sich Susanne Anschütz. Parallel dazu absolviert sie ein Fernstudium für den Abschluss als Fachschullehrerin.

Auch heute noch kennt sie sich aus mit biochemischen Prozessen, erklärt genau, wie es zur tödlichen Vergiftung ihres Mannes kommen konnte. „Eiweißabbau war immer mein Steckenpferd“, sagt sie. Hunderte junge Frauen bildet sie in Dresden aus, bringt ihnen bei, wie Blut, Harn und andere Stoffe untersucht werden. Laboranten liefern die Grundlage, damit Ärzte Krankheiten diagnostizieren können. „Ihr Name ist bis heute eng mit der Medizinischen Berufsfachschule verbunden“, sagt ihre Kollegin Manina Dageför.

Ein Leben mit 112 Jahren?

Und was erfüllt heute das Leben der rüstigen 100-Jährigen? „Kultur und Zeitgeschehen“, sagt sie. Die Lektüre der Tageszeitung ist Pflicht, genauso wie der Gang zur Wahlurne. „Es könnte vieles besser laufen, keine Frage – AfD habe ich trotzdem nicht gewählt“, sagt sie mit Nachdruck. Erst am vergangenen Sonntag – einen Tag nach der anstrengenden Geburtstagsfeier – besuchte sie mit ihrem Sohn ein Konzert der Staatskapelle in der Semperoper. Das traut sie sich noch zu, weil sie sich gut auskennt im Opernhaus, weiß, wo die Toiletten sind und die Garderobe. Niels Anschütz chauffiert seine Mutter mit dem Auto; die Fahrt mit der Straßenbahn und vielen fremden Menschen meidet sie seit Jahren. „Zum Bäcker um die Ecke gehe ich aber noch selbst.“ Vor einem Jahr hat Susanne Anschütz ihren Gehstock gegen den Rollator ausgetauscht.

Dass sie trotzdem noch so fit ist, könnte an ihrem Lebenswandel liegen. „Geraucht habe ich nur bei besonderen Gelegenheiten, ab und zu gibt es ein Glas Weißwein.“ Als sie erfährt, dass der älteste Deutsche gerade seinen 112. Geburtstag feierte, winkt sie gleich ab. „Um Gottes willen, irgendwann reicht es dann aber wirklich.“