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Plötzlich Silber

Die Leipziger Hürdensprinterin Cindy Roleder stürmt mit einem sensationellen Endspurt zu ihrer ersten WM-Medaille.

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© Reuters

Von Michaela Widder, Peking

Wenn nicht jetzt, wann dann? Es ist ihre Chance, und Cindy Roleder, 26, nutzt sie. Zwei amerikanische Favoritinnen waren zuvor in den Halbfinals über 100 Meter Hürden gestrauchelt, Dawn Harper Nelson schon nach wenigen Metern, ein Rennen später leistete sich Kendra Harrison einen Fehlstart. Dort erwischte Roleder selbst einen „grottenschlechten Start“, und steht trotzdem mit Bestzeit im WM-Finale von Peking. Jetzt hast du hier Spaß, sagt sie sich im Startblock, bevor es mit der Denkerei vorbei ist. „Man kann dann nicht denken, man rennt einfach um sein Leben.“

Unfassbar, Cindy Roleder ist Vize-Weltmeisterin.
Unfassbar, Cindy Roleder ist Vize-Weltmeisterin. © dpa

Roleder erwischt einen Start, wie wohl noch nie zuvor. „Perfekt“, sagt sie. „Ich war dabei, und hintenraus wissen wir alle, dass ich laufen kann. Dann habe ich mich ins Ziel geworfen.“ Es fehlen sogar nur zwei Hundertstelsekunden zu Gold, das die Jamaikanerin Danielle Williams gewinnt. „Das war das Rennen meines Lebens.“ Roleder steigert sich auf der „megaschnellen Bahn“ noch einmal – auf 12,59 Sekunden.

„Das ist ein Quantensprung, unfassbar. Ich bin sprachlos“, sagt Wolfgang Kühne. Trainer können immer am besten einschätzen, wie gut ihre Athleten in Form sind, aber Momente, in denen sie über sich hinauswachsen, erleben auch sie nicht allzu oft. Dieses Silber über diese Strecke ist so unerwartet wie die Bronzene von Hindernisläuferin Gesa Felicitas Krause. Als die DDR-Sprinterinnen Gloria Uibel (Silber) und Cornelia Oschkenat (Bronze) 1987 in Rom die bisher letzten deutschen Hürden-Medaillen bei einer WM gewonnen hatten, war Roleder noch gar nicht geboren.

In welch guter Verfassung die EM-Dritte ist, hatte sich seit dem Vorlauf angedeutet. „Ich weiß nicht, wie es unser Trainer macht, aber er schafft es immer, alle Athleten topfit an den Start zu bringen“, sagt die Leipzigerin. Roleder trainiert seit knapp zwei Jahren in Halle zusammen mit den Mehrkämpfern. „Das vielfältige Training tut mir gut. Es ist nicht für jeden der Weg, aber es ist mein Weg“, sagt die Gelegenheits-Siebenkämpferin. Der Aufbau war ähnlich wie 2014, nur ist Roleder in diesem Frühjahr früher aus dem Mehrkampf-Training ausgestiegen und hat sich noch intensiver auf die Hürden konzentriert. „Das werden wir so fortsetzen.“

Gestern Abend freute sich Roleder erstmals auf eine „Megasause“ mit dem deutschen Team. Nur ihre beiden Trainingskollegen fehlten. Die Zehnkämpfer Rico Freimuth und Michael Schrader, die nach dem ersten Tag in Lauerstellung auf den Plätzen drei und fünf liegen, tauchten schnell in der Eistonne ab und gingen zeitig ins Bett.

Altmeister Colin Jackson lobte Cindy Roleder. „Sie brachte von allen Finalistinnen das Schwungbein am schnellsten auf die Bahn“, sagte der Brite nach dem Überraschungsfinale. Der zweifache Weltmeister über 110 Meter Hürden hatte gut beobachtet, was die Leipziger Hürdenschule ausmachte: schnellen Bodenkontakt finden. Der heutige DLV-Cheftrainer Idriss Gonschinska hatte genau auf diese technischen Feinheiten einst selbst als Aktiver geachtet. Später gab er als Hürdencoach von Roleder diese Erfahrung weiter. „Chapeau! So ein Speed in der zweiten Hälfte!“, schwärmte er. „Sie ist eine unheimliche Kämpferin, die in Drucksituationen über sich hinauswachsen kann.“ Dafür hat sie aber kein besonderes Rezept. „Ich kann einfach die Nerven behalten“, sagt sie.

Leipzig hat nun seine zweite Vizeweltmeisterin im Hürdensprint. Bei den allerersten Weltmeisterschaften gewann 1983 die aus Oschatz stammende Kerstin Knabe in 12,42 Sekunden ebenfalls Silber. Nie eine WM-Chance hatte dagegen Karin Balzer, die für den SC Leipzig startete. Die erste Leichtathletik-Olympiasiegerin der DDR – 1964 in Tokio noch über 80 Meter Hürden – war dreimal Europameisterin und schaffte auch die Umstellung auf die 100-Meter-Hürdenstrecke. Als 34-Jährige gewann Balzer 1972 sogar Olympiabronze. Cindy Roleder kann eine Tradition weiterführen.

TV-Tipp: Die ARD überträgt am Sonnabend von 2.45 bis 7 Uhr und von 10.45 bis 16.30 Uhr, das ZDF am Sonntag von 1.15 bis 4 Uhr und von 12.30 bis 17 Uhr.