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Plädoyer für eine bessere Schule

Das deutsche Schulwesen ist keine Katastrophe, aber es muss sich ändern. Es bedarf keiner Revolution, aber einer Reform. Ein Aufruf von Robert Rauh, dem deutschen „Lehrer des Jahres“.

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© Piero Chiussi

Von Robert Rauh

Wir können doch sowieso nichts ändern! – Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört, wenn über Missstände in der Schulpolitik gesprochen wird. Und: Wir haben jetzt genug von Reformen! Als Betroffener kann ich diese Haltung gut nachvollziehen – letztendlich aber nicht akzeptieren! Das deutsche Schulwesen ist keine „Katastrophe“. Die Schüler werden auch nicht „immer dümmer“. Und Lehrer sind keine „faulen Säcke“. Im Gegenteil: Tagtäglich sind Pädagogen zusammen mit „ihren“ Kindern und deren Eltern bemüht, der Jugend etwas beizubringen und sie auf einen guten Schulabschluss vorzubereiten.

Und dennoch: Das deutsche Schulwesen muss sich verändern! Keine Revolution. Sondern eine realisierbare Reform der Rahmenbedingungen – ohne Tabu. Dabei geht es nicht darum, von der Politik nur mehr Geld für Bildung zu verlangen – obwohl das reiche Deutschland bei Bildungsinvestitionen noch immer unter dem OECD-Durchschnitt liegt. Es bedarf konkreter Veränderungen vor Ort! Es bedarf der Verbesserung der Schulqualität! Um unsere Kinder zu unterstützen in der Entwicklung zu kritischen, selbstständigen und zivilcouragierten Persönlichkeiten, die nicht nur Wissen „wissen“, sondern entsprechend ihrer Fähigkeiten die Kenntnisse auch anwenden können.

Ich möchte eine Debatte anstoßen. Und mir ist klar, dass ich nicht der Erste und Einzige bin, der mit einem Aufruf um die bildungspolitische Ecke kommt. Aber ich bin jetzt in vielen Gesprächen ermuntert worden, die Auszeichnung mit dem Deutschen Lehrerpreis zu nutzen, um an die Öffentlichkeit zu gehen.

Jetzt sind wir eine Initiative. Lehrer, Schüler, Referendare, Lehramtsstudenten und Eltern aus verschiedenen Schulformen und Bundesländern, die tagtäglich Schule nicht nur „(er)tragen“, sondern auch gestalten wollen. Die nicht resignieren wollen, sondern an Veränderungen interessiert sind. Uns ist durchaus bewusst, dass nicht alle Punkte auf Zustimmung stoßen werden. Aber unser Aufruf ist auch keine Gesetzesvorlage. Der Forderungskatalog steht zur Diskussion – und kann oder soll auch verändert bzw. erweitert werden. Er richtet sich an alle, die im engen und weiteren Sinne mit Schule zu tun haben, an alle Interessierten und natürlich an die Politiker in Bund und Ländern. Worum geht es uns?

1. Gleiche Anforderungen in allen Bundesländern

Wir fordern bundesweit gleiche Schulabschlüsse sowie einheitliche Kerncurricula und Kompetenzstandards! Um Chancengleichheit, Mobilität und internationale Wettbewerbsfähigkeit abzusichern, müssen die schulischen Rahmenbedingungen für alle Bundesländer vereinheitlicht werden – ohne gleich den Bildungsföderalismus abzuschaffen: Vergleichbare Prüfungsanforderungen beim Mittleren Schulabschluss und beim Abitur setzen einheitliche Kerninhalte für die Lehrpläne und gleiche Kompetenzstandards für alle Fächer in allen Schulformen voraus. Der begrüßenswerte Beschluss der Kultusminister vom Juni 2013 über einen zentralen Pool für Abituraufgaben in vier Kernfächern sowie über die bundesweite Standardisierung der Bewertungskriterien kann nur ein Anfang sein. Zudem müssen parallel die Beschäftigungsverhältnisse der Lehrer vereinheitlicht werden.

2. Weniger Inhalte, mehr Kompetenzen

Wir fordern eine Reduzierung der Lehrplaninhalte und eine kompetenzorientierte Schulausbildung! Angesichts einer sich revolutionär verändernden Wissenschaftsgesellschaft müssen alle Lehrplaninhalte auf den Prüfstand – im Hinblick auf ihre zeitgemäße Relevanz. Längst erprobte didaktische Prinzipien wie das exemplarische Lernen ermöglichen eine überfällige Reduzierung der Inhalte. Das stupide Pauken von Stoffmengen für einen Test bzw. für eine Klausur in bis zu 16 Fächern produziert Stress und „Bulimie-Wissen“. Das Ziel von Schule sollte sein, unter Anleitung oder allein bzw. in der Gruppe vielfältige Problemlösungsstrategien zu entwickeln und anzuwenden. Neben den fachbezogenen Kompetenzen gilt es auch die sozialen Kompetenzen wie Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Empathie und Teamfähigkeit zu fördern.

3. Kleinere Lerngruppen und längere Unterrichtsstunden

Wir fordern maximal 25 Schüler in einer Klasse und eine längere Unterrichtsstunde! Wie im 19. Jahrhundert sitzen in der Mittelstufe häufig mehr als 30 Schüler dicht gedrängt in viel zu kleinen Klassenräumen und absolvieren im 45-Minuten-Takt bis zu sieben Fächer am Tag. Eine individuelle Förderung bleibt dabei eine Illusion. Binnendifferenzierte Aufgaben, die sich an den unterschiedlichen Leistungsniveaus orientieren, lassen sich aber nur in kleineren Lerngruppen realisieren. Auch eine erfolgreiche Inklusion lässt sich nicht mit hohen Klassenfrequenzen umsetzen.

Um einen Unterricht zu ermöglichen, bei dem Schüler je nach ihrem Leistungsstand gefordert und gefördert werden können, sollte außerdem die Zeit für eine Unterrichtsstunde von 45 Minuten auf 60 bzw. 90 Minuten ausgeweitet werden. Unsere Erfahrung besagt, Schulen, die bereits längere Unterrichtsstunden eingeführt haben, wollen zum alten 45-Minuten-Takt nicht mehr zurück.

4. Gleiche Bildungschancen für alle

Wir fordern gleiche Bildungschancen für alle Kinder ungeachtet ihrer sozialen Herkunft – in Ganztagsschulen! Um Kindern aus sozial benachteiligten Elternhäusern gleiche Bildungschancen einzuräumen, müssen kostenlose Angebote wie Hausaufgabenbetreuung oder Nachhilfeunterricht in der Schule sowie zusätzlicher Sprachunterricht zur Verfügung stehen.

Dazu muss der flächendeckende Ausbau von Ganztagsschulen vorangetrieben werden – mit mehr Personal und einer qualitätsgerechten und bezahlbaren Essensversorgung in Schulkantinen.

5. Professionelle Schulorganisation

Wir fordern eine professionelle Schulorganisation mit zusätzlichem Fachpersonal: Sozialpädagogen, Netzwerkbetreuer und Schulmanager! Die schulorganisatorischen Anforderungen sowie die Lehrerarbeitszeit (inzwischen bis 26 Wochenstunden) sind seit 1949 stetig gestiegen. Und die Schulleitungen sind primär damit beschäftigt, den Schulalltag zu managen – anstatt die Unterrichtsqualität abzusichern. Zeit für die Erprobung neuer pädagogischer Konzepte oder eine gezielte individuelle Betreuung der Schüler sowie eine ausreichende Kommunikation mit den Elternhäusern fehlt häufig. Daher müssen Schulleitungen und Lehrer entlastet werden: durch einen Schulmanager, durch „Schulhelfer“ sowie einen Netzwerkbetreuer für die mediale Ausstattung. Zudem hat sich immer wieder gezeigt, dass durch einen fest angestellten Sozialpädagogen schulische Konflikte zwischen Schülern, zwischen Lehrern und Schülern bzw. Eltern entschärft und Eskalationen verhindert werden konnten. Darüber hinaus sollen sich die Schulen weitgehend selbst verwalten. Sie sollen demokratisch über die Verwendung ihrer finanziellen und personellen Ressourcen sowie geeignete pädagogische Konzepte entscheiden können.

6. Moderne räumliche und mediale Ausstattung der Schulen

Wir fordern eine räumliche und mediale Ausstattung, die modernen Anforderungen entspricht und ein optimales Lernklima schafft! Die vielerorts eingeleitete Gebäudesanierung muss auf alle Schulstandorte ausgeweitet und beschleunigt werden. Schulen sollten nicht nur über ausreichend Fach- und Klassenräume sowie eine Sporthalle verfügen, sondern auch über Pausenräume, eine Kantine sowie eine Aula bzw. einen Theaterraum – sowie über einwandfreie Sanitäranlagen. Ungeachtet dessen sollte bei Neu- und Umbauten architektonisches Neuland betreten werden: Schulen sollten nicht Krankenhäusern oder Kasernen gleichen, sondern Lernräume schaffen, die für ein optimales Lernklima sorgen und Raum für neue pädagogische Konzepte ermöglichen.

Darüber hinaus reicht es in der modernen medialen Welt nicht mehr aus, Schulen flächendeckend mit Computerkabinetten und die Klassenräume mit interaktiven Tafeln (Smartboards) auszustatten. Schüler müssen angemessen auf die berufliche wie auch gesellschaftliche Teilhabe im digitalen Informationszeitalter vorbereitet werden. Voraussetzung ist die Bereitstellung und professionelle Wartung einer zeitgemäßen IT-Infrastruktur, zu der mittelfristig auch bezahlbare Touchpads mit pädagogisch geprüfter Lern- und Unterrichtssoftware für jeden Schüler gehören könnten.

7. Regionale Vernetzung der Schulen

Wir fordern eine Ausweitung der regionalen Vernetzung mit außerschulischen Einrichtungen! Die oft schon vorhandene Vernetzung der Schulen mit regionalen außerschulischen Einrichtungen wie Sportvereinen, mittelständischen Unternehmen, Jugendklubs, Musikschulen, Museen und Geschichtswerkstätten sollte ausgeweitet werden. Hierfür müssen Kapazitäten und finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Die Kooperation mit außerschulischen Einrichtungen in der Region könnte der Schulmanager übernehmen

8. Ein zweigliedriges Schulsystem – in allen Bundesländern

Wir fordern bundesweit ein zweigliedriges Schulsystem – ohne die regionale Vielfalt der Schulformen und deren pädagogische Ansätze aufzuheben! Ein dreigliedriges Schulsystem existiert nur noch in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen. Alle anderen Bundesländer haben Haupt- , Real- und Gesamtschulen zu einer Schulform zusammengefasst. Das erhöht nicht nur die Chancengleichheit, sondern erleichtert auch die immer wieder geforderte Mobilität – beim Umzug von einem Bundesland ins andere. Das Gymnasium sollte als Schulform erhalten werden und darüber hinaus die Möglichkeit bieten, um leistungsstarke Kinder in „Schnellläuferklassen“ (Überspringen von einer Klassenstufe) oder in „Spezialklassen“ (Latein als erste Fremdsprache) gezielt zu fördern.

9. Kein Turbo-Stress-Abitur

Wir fordern die Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren (G9)! Der bundesweiten Kritik von Schülern, Eltern und Lehrern über Stofffülle, lange Schultage und viele Hausaufgaben seit der Einführung von G8 sollte Rechnung getragen werden. Die Konsequenz bedeutet entweder eine Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren oder eine Optimierung des Schulalltags durch Ganztagslernen (Schulaufgaben statt Hausaufgaben) sowie eine Kürzung der Lehrplaninhalte. Um ein ewiges Reform-Hin-und-Her zu vermeiden, sollte an allen Schulformen die Wahlmöglichkeit für G8 oder G9 bestehen.

10. Späterer Unterrichtsbeginn

Wir fordern, dass der Unterricht generell später beginnen sollte! Ein späterer Schulbeginn, das belegen auch Erkenntnisse der Hirnforschung, fördert die Lernmotivation und wirkt sich positiv auf das seelische Gleichgewicht der Jugendlichen aus. Daher sollte der Unterricht generell später beginnen: in einem flexiblen Zeitkorridor zwischen 8.30 und 10.00 Uhr. Wissenschaftliche Studien über in den USA getestete „Längerschläfer“ belegen, dass die Schüler nicht nur leistungsfähiger waren und bessere Noten erreichten, sondern auch ein „offeneres Sozialverhalten“ zeigten. Darüber hinaus sank die Zahl der „Zuspätkommer“ und Schwänzer. Konsequenz: Späterer Unterrichtsschluss und Ausbau der Ganztagsschulen.

Der Aufruf mit der Bitte um Unterstützung durch Unterschrift ist online abrufbar unter www.schul-gerecht.de