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Perlen für Millionen

Vor 120 Jahren gründete Rudolf Hoinkis eine Süßwarenfabrik. Ein besonderes Produkt machte sie weltbekannt.

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© Ralph Schermann

Von Ralph Schermann

Görlitz. Mathias Hoinkis kann sein, auf welcher Messe er will – als Geschäftsführer einer Spezial-Dragee-Fabrik wird er nirgendwo begrüßt. Kaum ist der Name Hoinkis ausgesprochen, ist er eingeordnet: „Aha, die Liebesperlen.“ Erst hat sich der Chef ein klein wenig geärgert, dann aber sah und sieht er es positiv: Was könnte es Besseres geben, als in der Welt bekannt zu sein?

Vor hundert Jahren waren Briefköpfe und Firmendrucksachen auch bei Rudolf Hoinkis kleine grafische Kunstwerke.
Vor hundert Jahren waren Briefköpfe und Firmendrucksachen auch bei Rudolf Hoinkis kleine grafische Kunstwerke. © Repro: Ralph Schermann
Dieses bunte Relief-Bild besteht aus 33000 Liebesperlen – Weltrekord.
Dieses bunte Relief-Bild besteht aus 33000 Liebesperlen – Weltrekord. © Ralph Schermann
Solche Geschäfte wie auf der Mittelstraße gab es mehrere.
Solche Geschäfte wie auf der Mittelstraße gab es mehrere. © Repro: Ralph Schermann
Geschäftsführer Mathias Hoinkis führt das Familienunternehmen heute als GmbH weiter. Im Gewerbegebiet am Flugplatz produzieren seine Mitarbeiter täglich Waren, die auf fast alle Kontinente geliefert werden.
Geschäftsführer Mathias Hoinkis führt das Familienunternehmen heute als GmbH weiter. Im Gewerbegebiet am Flugplatz produzieren seine Mitarbeiter täglich Waren, die auf fast alle Kontinente geliefert werden. © Ralph Schermann

Tatsächlich steht seiner Firma die Welt offen. Nach Liebesperlen verlangen derzeit über 20 Länder, darunter Indonesien, der arabische Raum, Nord- und Südamerika und Europas hoher Norden. „Auch in der DDR-Zeit gab es viel Export, doch da lieferten wir an den staatlichen Außenhandel und kannten die einzelnen Länder nicht“, erzählt Mathias Hoinkis. Damals waren die Liebesperlen zudem kleiner als heute, um in die schmalen, in Thüringen produzierten Glasfläschchen zu passen. Sie waren Baby-Nuckelflaschen nachempfunden. Mit den etwas größeren Kunststoffflaschen wurden die Kügelchen größer, damit insgesamt „die Proportionen stimmen“, wie Mathias Hoinkis sagt. Heute kommen die Perlen zudem auch in anderen Umhüllungen daher, in Trompeten etwa und in Schirmen, oder auch in Malstiften. Auch Rezepturen haben sich gewandelt. Zwar bleibt es weiter ein Firmengeheimnis, warum in den bis zu 120 Stunden ihres Entstehens die Kügelchen in den großen rotierenden Kesseln nicht verkleben, doch seit 1990 wird verstärkt Traubenzucker eingesetzt. „Und wir verwenden ausschließlich Naturfarben“, betont der Chef. Wobei für die unterschiedlichen Auslandslieferungen penibel auf die jeweils im Bestellerland zugelassenen Lebensmittelfarbstoffe geachtet werden muss. „Farbe ist nicht gleich Farbe“, sagt Mathias Hoinkis, „doch der typische Geschmack ist immer gleich.“ Es gibt einen typischen Liebesperlen-Geschmack? „Klar: leicht sauer und ein Hauch Zitrone“.

Eine Million Kilogramm Dragees verlassen jährlich das Werk im Görlitzer Gewerbegebiet am Flugplatz. Das meiste sind Liebesperlen, aber Hoinkis produziert auch die Travel-Mints, kleine Pfefferminz-Murmeln. Für Backwarenbetriebe und Gastronomie liefert er kleinere Dekor-Kügelchen, und es gibt noch manch weiteres Erzeugnis auf der Produktpalette. Nicht überall steht dann aber auch Hoinkis drauf. Zum Beispiel dragieren die 20 Mitarbeiter der GmbH im Lohnauftrag auch Nahrungsergänzungsmittel, die zum Beispiel als Cranberry- oder Vitamin-Pillen in Apotheken, Reformhäuser oder Drogerien kommen.

Dass man mit süßen Kugeln sogar ins Guinness-Buch der Rekorde kommen kann, bewies Erhard Rommer, ein Rentner aus Heilbronn. 2001 schuf er aus 33 000 Liebesperlen die Nachbildung des Wandmosaiks der Kaiserin Theodora mit Gefolge aus dem sechsten Jahrhundert. Die Firma Hoinkis war begeistert, kaufte das Werk auf und gab ihm einen lichtgeschützten Platz, damit die Farben nicht verblassen. Dass der Senior die Perlen aus Görlitz orderte, hat einfache Gründe. Hier wurden sie schließlich 1908 erfunden, und außerdem gibt es in Deutschland, wenn überhaupt, nur noch eine Handvoll kleiner Dragee-Betriebe. „Sogar der eigenständige Beruf des Drageurs wurde abgeschafft, heute gibt es nur noch allgemeine Süßwaren-Facharbeiter“, bedauert Mathias Hoinkis.

Weder an säuerliche Zitronen noch an Millionen von Perlen war zu denken, als Rudolf Hoinkis am 16. August 1896 auf der Landeskronstraße 36 seine gleichnamige Süßwarenfabrik gründete. Bis zu 70 Mitarbeiter stellten dort im Hinterhof Bonbons und Dragees her, vor allem aber Schokolade. Der Verarbeitungsprozess der Grundstoffe von der Kakaobohne bis zur fertigen Schokolade erfolgte in diesen kleinen Räumen. Der Unternehmer besaß in Görlitz bald schon eine ganze Ladenkette. In der Firmenchronik ist noch immer ein Arbeitsvertrag von 1914 mit einer Verkäuferin für seine Läden zu finden. Und da der erfinderische Fabrikant schon damals seine Erzeugnispalette ständig erweiterte, schuf er sich ein Einzugsgebiet von Breslau bis Dresden, war auch stets auf Messen präsent, und die von ihm ausgetüftelten Liebesperlen sollten schließlich sein unternehmerisches Glanzstück werden.

In den 30er-Jahren übergab der Firmengründer seinen Betrieb schrittweise an Sohn Otto weiter. Das Familienunternehmen überlebte beide Weltkriege. Anfang der 1940er-Jahre wurde in der Firma das Eisenpräparat „Ferro66“ gepresst und dragiert, das bei der deutschen Luftwaffe als Arzneimittel für Piloten Verwendung fand. Während der Evakuierung von Görlitz kurz vor Kriegsende floh die Familie Hoinkis nach Seiffen im Erzgebirge. Zwar blieben die Maschinen der Firma im Krieg unversehrt, doch war in den ersten Nachkriegsjahren Zucker rar, sodass statt Süßwaren Haferflocken hergestellt wurden. Ab 1950 nahm die Firma dann die Tradition der Liebesperlen wieder auf, verarbeitete fortan aber nie mehr Schokolade.

1960 wurde die Firma halbstaatlich, 1972 enteignet und gehörte als VEB Dragee dem landesweiten Süßwarenkombinat an. 1990 kaufte der Enkel des Firmengründers, Bernd Christian Hoinkis, die Firma zurück und nahm gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn Mathias die Arbeit wieder auf. 1994 gab es mit der „Goldenen Uhr“ die höchste Auszeichnung der Süßwarenindustrie der BRD. Am 16. August 1996, dem 100-jährigen Bestehen der Firma, wurde das neue Firmengebäude im Gewerbegebiet eingeweiht. Denn Liebesperlen sind auch weiterhin Schlager für Millionen.