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Pascals Traum

Ein 16-Jähriger Schüler der Mückaer Oberschule spielt mit Hingabe Orgel. Er ist Asperger-Autist. Die Musik öffnet Türen.

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© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Anja Gail

Die ersten Töne an der Orgel stehen jeder noch etwas für sich im Raum. Pascals Blick fixiert die Tasten. Nur sein Mund bewegt sich manchmal mit, so, als würde er dem Klang zusätzlich eine Form geben wollen. Nach kurzer Zeit gleiten seine Finger über die Tastatur. Wenn sich die erste Anspannung gelegt hat, taucht er ab in die Musik, sagt seine Mutter Gabi Götze. Aber er habe schon großes Lampenfieber, wenn er vorspiele, erklärt Pascal. Das fühle sich so an, als würde alles in ihm explodieren. Seine Mutter staunt: Dann könne er das aber toll verbergen.

Pascal spielt seit sieben Jahren Klavier und Orgel. Im Kindergarten haben Erzieherinnen den Eltern gesagt, er sei völlig unmusikalisch. Aber da hatte sich schon gezeigt: Er war auch anders als die anderen Kinder. Pascal lebt mit einer neurologischen Störung, dem Asperger-Autismus. Außerhalb seiner Welt können ihn Situationen, Worte und Ereignisse verunsichern und blockieren. Er verarbeitet Wahrnehmungen anders, legt ungewöhnliche Denkweisen an den Tag, löst Probleme auf seine Art und Weise. Er ist schnell ablenkbar, kann Gelerntes nicht so leicht auf andere Situationen übertragen und er benötigt viele Routinen und Beständigkeit.

Wenn er aufgeregt ist, knackt er zum Beispiel mit den Fingern, erzählt seine Mutter oder er lässt unangebrachte Worte raus. Dann muss ihn in der Schule sein Lernbegleiter beruhigen. Er erklärt ihm zum Beispiel auch, dass in der Stunde der Unterricht Vorrang hat und nicht das akribische Einsortieren der Stifte in die Federtasche. Mit einem Plus- oder Minuszeichen als Kopfnote an einer Zensur kann Pascal für sich nichts anfangen. Und Sprache legt er oft wortwörtlich aus.

Das führt schnell auch zu Missverständnissen und Klärungsbedarf. Es macht den Alltag nicht leicht, erzählt seine Mutter. Beharrlichkeit gehört oft zum Tagesprogramm. Aber, der 16-Jährige lernt gern und er mag seine Schule in Mücka. Er fühlt sich wohl in der Klasse. Das war in der Grundschulzeit anders. In der Förderschule langweilte er sich schnell. Es sei einfach nicht der richtige Platz für ihn gewesen, weil er mehr konnte, sagt Frau Götze. Also ließ die Familie nicht davon ab, eine Schule mit Integrationsplatz für ihn zu finden.

„Die anderen merken das alles, ich nicht“, sagt Pascal zu seiner Situation. Bisher hat er einen guten Durchschnitt bei seinen Zeugnissen hingelegt. Deshalb setzen sich seine Eltern auch dafür ein, dass er bis zur zehnten Klasse an der Schule bleiben und den Realschulabschluss machen kann.

Dieser unerschütterliche Glaube hat Pascal auch die Tür zur Musik geöffnet. Dass er völlig unmusikalisch war, schien seinen Eltern eine vorschnell gefasste Einschätzung zu sein. Als ein Freund beobachtete, wie der Junge oft rhythmisch und im Takt zu Melodien oder anderen Geräuschen mit der Hand klopfte, ermunterte er die Familie, ihn doch ein Instrument spielen zu lassen. Von sich aus kam Pascal auf die Orgel.

Aber, wo sollte er das lernen und würde sich jemand finden, der mit seiner Situation zurechtkommen würde? Durch Zufall entdeckte eine Bekannte, dass die Kantorin der Nieder Seifersdorfer Kirche Unterricht gab. Damals wollte Hannelore Schulz aber gar keinen neuen Schüler mehr aufnehmen. Als Frau Götze ihr aber keine Ruhe damit ließ und wenigstens um einen Termin zum Vorstellen bat, brachte es die Kirchenmusikerin nicht übers Herz, der Familie von vornherein abzusagen.

Sie könne sich noch genau daran erinnern, wie der Junge damals mit fast neun Jahren vor ihr stand. Er wollte unbedingt Orgel spielen lernen. Das habe er so gesagt. Und ihr habe das sehr imponiert. Denn ein starker Wille sei ganz wichtig, erklärt Frau Schulz. Mit viel Ruhe, Geduld und ganz langsam hätten sie beide damals losgelegt. Dass er Noten lernen musste, den Einsatz beider Hände und der Füße an den Pedalen, sieht sie als ganz wichtig für das Denkvermögen eines Menschen an. Das habe ihm sicher gut getan. Es freue sie deshalb auch so sehr, dass sich Pascal so toll herausgemacht habe, sagt die 76-jährige Kantorin. Pascal sei nun ihr letzter Musikschüler, den sie ausgebildet hat. Er zähle für sie zu den Besten. Anfangs lernte er die Musikstücke auswendig. Um weiterzukommen, musste er auch die Noten beherrschen. Da kamen ihm seine Stärken zugute, denn er merkt sich Detailwissen gut und ist mit Eifer dabei. Die Eltern hatten erst ein Keyboard gekauft. Inzwischen stehen auch eine elektronische Heimorgel und ein Klavier im Haus. Irgendwann wollte er gern moderne Musik spielen. So kam er zu einer privaten Musikschule in Görlitz: „time2groove“. Seit drei Jahren lernt er dort bei Felix Dohrmann Klavier, und er tritt in einer Band auf. Aber da ist nicht nur die Musik in seinem Leben. Er trainiert auch in Görlitz Hapkido. Das ist eine koreanische Kampfsportart. Keine leichte Sache. Stolz zeigt er auf Urkunden – sein sportlicher Weg. Herausforderungen, die ihm sehr geholfen haben, selbstständig zu werden und sich etwas zuzutrauen, über sich hinauszuwachsen, sagen seine Eltern.

Sein vertrautes Umfeld ist ihm dennoch sehr wichtig. „Wir müssen mal wieder zur Hannelore fahren“, sagt er gern zu Hause. Dabei fehlt er bei so gut wie keinem Gottesdienst in Nieder Seifersdorf oder Konzert in der Umgebung an ihrer Seite. Dann muss Frau Schulz aber auch neben ihm sitzen, wenn er an der Orgel spielt. Das macht sie gern. Wie von selbst fliegen seine Hände dann mit der Zeit über die Tastatur.