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Ostdeutsche vertrauen dem Rechtsstaat weniger

Eine Studie zur Einigkeit der Deutschen in Ost und West deckt eine Vielzahl von Unterschieden auf.

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© dpa

Von Sven Siebert, Berlin

Deutschland ist in diesem Jahr ein Vierteljahrhundert „vereint, aber es ist nicht eins“. Zu dieser Einschätzung kommt Iris Gleicke (SPD), die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer. In ihrem Auftrag hat eine Forschergruppe den Stand der Annäherung der Deutschen in Ost und West untersucht. „Sind wir ein Volk?“ fragten die Wissenschaftler und untersuchten dies an einer Vielzahl von Kriterien. Sie befragten im vergangenen Herbst rund 1 300 West- und knapp 700 Ostdeutsche, und sie werteten Studien aus, die zum Teil bis in die 60er-Jahre zurückreichen. Eine Antwort lautet: Wir waren schon immer ein Volk, aber es gibt immer noch viele Unterschiede. Die SZ gibt einen Überblick, wo die Menschen in den beiden, über 40 Jahre getrennten Teilen Deutschlands immer noch unterschiedlich ticken.

Das Bild der DDR ist in Ost und West sehr unterschiedlich.

71 Prozent der Westdeutschen stimmen der Beschreibung zu, die DDR sei ein „Unrechtsstaat“ gewesen. Im Osten sind dies nur 46 Prozent der Befragten. Dabei sind zugleich 70 Prozent der Ostdeutschen der Meinung, die DDR sei eine Diktatur gewesen. Das ist weniger, aber nicht viel weniger als die 82 Prozent Westdeutscher, die dies finden. Die deutliche Lücke zwischen 70 Prozent (Diktatur) und 46 Prozent (Unrechtsstaat) erklären die Wissenschaftler psychologisch: „Viele Ostdeutsche fürchten, Teile ihrer eigenen Biografie zu entwerten, wenn sie zustimmen, dass die DDR zu einem Synonym für Unrecht erklärt wird.“

Die Mehrheit der Ostdeutschen hält den Sozialismus für eine gute Idee.

„Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde.“ Dieser These stimmen 59 Prozent der Ostdeutschen, aber nur 39 der Westdeutschen zu. Dazu passt, dass Ostdeutsche in vielen arbeitsmarkt-, sozial- und gesundheitspolitischen Fragen dem Staat mehr Zuständigkeit und Verantwortung zumessen. Die Ostdeutschen schätzen sich insgesamt „linker“ ein als die Westdeutschen. Auf einer Skala von +2 (extrem rechts) bis -2 (extrem links) ordnen sich Ostdeutsche im Durchschnitt seit 1990 nur wenig verändert bei -0,3 ein, Westdeutsche bewegen sich hingegen mit schwacher Tendenz ins Minus um die Nulllinie. In Ost und West gibt es in den vergangenen Jahren eine leichte Stärkung des linken Flügels der Gesellschaft. Die Forscher führen dies vor allem auf „die Nachwirkungen der letzten großen globalen Finanzkrise und eine dadurch belebte kritische Bewertung des Bankenkapitalismus“ zurück.

Ostdeutsche fühlen sich in Gesamtdeutschland immer noch fremd

Bei älteren Ostdeutschen ist die Verbundenheit mit dem historischen Gebiet der DDR, mit „Ostdeutschland“ größer als mit „Gesamtdeutschland“. Bei der Untersuchung der „räumlichen Verbundenheit“ rangiert im Osten der Wohnort an erster Stelle. Es folgen: Bundesland, Ostdeutschland, Gesamtdeutschland, Europa. Im Westen ist die Reihenfolge anders: Die höchste Identifikation gibt es mit dem Bundesland. Es folgen: Wohnort, Deutschland, Westdeutschland, Europa. Diese Rangfolge deutet darauf hin, dass die Westdeutschen beim Begriff „Deutschland“ vor allem an Westdeutschland denken – und die Ostdeutschen auch. Ähnlich ist es bei der Identifikation mit dem politischen System. Dem Satz „In der Bundesrepublik Deutschland fühle ich mich politisch zu Hause“ stimmen im Osten nur 47 Prozent, im Westen 73 Prozent zu. In der Generation der nach 1990 sozialisierten Deutschen treten diese Unterschiede hingegen nicht mehr auf. Bei den Jüngeren ist die Identifikation auch mit dem politischen System in Ost und West gleich hoch.

Das Misstrauen gegen staatliche Institutionen ist im Osten größer.

Die Unterschiede im Vertrauen, das die Bürger den Institutionen des Rechtsstaats und ihren Repräsentanten entgegenbringen, sind in Ost und West gering. Die Ostdeutschen sind aber im Durchschnitt skeptischer. Das Vertrauen in Polizei und Gerichte ist verhältnismäßig hoch, das Vertrauen der Westdeutschen in diese Institutionen jeweils etwas höher als im Osten. Vollkommen einig sind sich die Durchschnittsbürger West und die Durchschnittsbürger Ost in ihrer Skepsis gegenüber „den Politikern“. Auf einer Skala von null (überhaupt kein Vertrauen) bis 4 (voll und ganz vertrauen) erreichen Politiker nur schwache 1,8. Staatssekretärin Iris Gleicke sagte deshalb: „Das ist schon eine ziemliche Klatsche für uns Politiker.“

Und weil Gleicke für den Aufbau Ost zuständig ist, mahnte die SPD-Politikerin sogleich, die Große Koalition müsse ihre Zusage einhalten, ein in Ost und West einheitliches Rentenrecht zu schaffen. „Ich kann in dieser auch symbolisch wichtigen Frage nur alle warnen, die sich heimlich wünschen, dass sich das irgendwann von alleine regelt.“ Die Koalition aus Union und SPD müsse ihr Wort halten, wenn sie „glaubwürdig bleiben und ernst genommen werden will“.