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Noch einmal Winzig

Ein Filmemacher-Duo dreht eine Doku über das Schicksal einer polnischen Kleinstadt im Dritten Reich und danach.

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© I. Hennig / Luana Kneipfer / Gmina / Montage: SZ-B

Von I. Hennig und M. Marciniak

Ein Haus vermietet, Stoff für einen Film gefunden. Manchmal kommen Geschichte und Geschichtenerzähler auf ungewöhnlichem Wege zueinander. Im Fall der US-Amerikanerin Vicki Luther ist es – kurzgefasst – genauso abgelaufen. Die Filmemacherin, die seit 25 Jahren in Deutschland lebt, hat ein Haus in Miami, im US-Bundesstaat Florida. Das vermietet sie zeitweise an Sommergäste. Und unter denen war die Nichte einer Rita Steinhardt-Botwinick, die ihre deutsche Heimat 1939 verlassen musste. Denn Rita war Jüdin. Anfang der 1920er Jahre geboren in Winzig, einem Städtchen, das heute Wiñsko heißt und in Polen liegt – nordöstlich von Legnica (Liegnitz).

Vicki Luther (links) und Antje Dohrn drehen einen Film über Winzig, heute Wiñsko in Polen.
Vicki Luther (links) und Antje Dohrn drehen einen Film über Winzig, heute Wiñsko in Polen. © Gudrun Arndt
Vicki Luther (links) und Antje Dohrn drehen einen Film über Winzig, heute Wiñsko in Polen.
Vicki Luther (links) und Antje Dohrn drehen einen Film über Winzig, heute Wiñsko in Polen. © Gudrun Arndt

Rita war ein Teenager, als sie mit den Eltern fliehen musste. Die Familie durfte in die USA emigrieren, weil der Vater Fähigkeiten als Landwirt nachweisen konnte. Das Leben gerettet, die Heimat für immer verloren. Das ist das Schicksal von Rita Steinhardt. „Verglichen mit ganz vielen anderen Juden, hatte sie Glück“, erzählt Vicki Luther. Auch Rita, inzwischen 94 Jahre alt, erzählt. Und zwar ihre Geschichte – in Schulklassen und bei kleinen privat organisierten Vorträgen. Einen solchen hat sich Vicki Luther angehört, nachdem sie Ritas Nichte kennengelernt hatte und neugierig geworden war auf den Lebensweg der Historikerin mit Doktor- und Professorentitel, auf die zweifache Mutter und mehrfache Großmutter. „Nach ihrem Vortrag habe ich gesagt, dass ich gern einen Film über ihr Leben drehen möchte. Sie fand das interessant.“ Und willigte ein. „Auf Wiedersehen in Winzig“ wird der Film heißen, 2017 in den USA, in Polen und Deutschland gedreht. Wenn er fertig ist, soll er zunächst auf Festivals laufen, dann in den Kinos und später vielleicht auch im Fernsehen.

Vicki Luther realisiert das Projekt mit der Germanistin, Fotografin und Filmemacherin Antje Dohrn. Gemeinsam haben die Frauen das Unternehmen Calypso Media in Berlin gegründet. Ihre erste Dokumentation „How Berlin got the Blues“ schildert die Geschichte eines US-Soldaten, der im Kalten Krieg in West-Berlin als Agent arbeitete. Abends feierte er Erfolge als Bluesmusiker. Der Streifen wurde 2016 und 2017 auf Festivals in Los Angeles und New York City präsentiert. Auch in Berlin lief er schon erfolgreich. Derzeit wird er für Kinoaufführungen mit deutschen und französischen Untertiteln versehen.

Das neue Projekt soll ebenso zunächst auf Festivals präsentiert werden und später den Weg in die Kinos nehmen. Die beiden Produzentinnen sind sich relative sicher, dass es einen Streifen wie den ihren noch nicht gegeben hat. Denn sie verweben deutsche und jüdische Geschichte, nehmen das Schicksal beider Bevölkerungsgruppen Winzigs in den Blick. Schauen in die Vergangenheit und in die Gegenwart.

25 Zeitzeugen befragt

Die Sächsische Zeitung hatte unlängst von Rita Steinhardt-Botwinick berichtet. Denn in ihrer früheren Heimat Winzig steht noch immer eine arg marode Scheune, die der Familie gehörte. Wiñskos Bürgermeisterin Jolanta Krysowata möchte den riesigen Bau aus Fachwerk und Backstein gern sanieren und als Begegnungszentrum nutzen. Doch lange war sie Teil eines ungeklärten Nachlasses. Jolanta Krysowata trieb schließlich die Erben auf – verstreut in Deutschland und Polen. Die verzichteten nun auf die baufällige Hinterlassenschaft. Wenn Jolanta Krysowata die Zustimmung ihres Gemeinderates hat und das nötige Geld, kann sie ihr Projekt umsetzen.

Mit Rita Steinhardt steht sie in Kontakt. Über Steinhardts Buch „Winzig, Germany, 1933-45: The History of a Town under the Third Reich“ („Winzig, Deutschland, 1933-45: Die Geschichte einer Stadt im Dritten Reich“) war sie auf die frühere Winzigerin aufmerksam geworden. Rita Steinhardt-Botwinick hatte in dieser Veröffentlichung am Beispiel eines kleinen Ortes die Geschehnisse im Dritten Reich nachvollzogen. Natürlich werden Vicki Luther und Antje Dohrn in Wiñsko drehen, mit der Bürgermeisterin sprechen. Sich von ehemaligen Bewohnern durch die Gemeinde, die früher eine Stadt war, führen lassen.

Zwischen 77 und 90 Jahre sind sie alt, die einstigen Winziger. 1945 und danach wurden sie aus ihrer Heimat vertrieben. Einige sogar doppelt. Denn ein Teil der Menschen kehrte nach einer ersten Flucht zunächst nach Winzig zurück. Mitunter teilte man sich die alten Wohnungen mit inzwischen eingezogenen polnischen Neuankömmlingen.

Schließlich aber mussten sie ganz weg. Sie kamen in verschiedenen Ecken Deutschlands unter – einige in der späteren Bundesrepublik, andere in der Sowjet-Zone. Seit 1947 treffen sie sich. Zuletzt kamen sie Ende Juni/Anfang Juli in Seiffen im Erzgebirge zusammen. Dort haben 25 von ihnen in langen Interviews von damals und von heute erzählt – unter ihnen Christoph Prause. Antje Dohrn und Vicki Luther haben die Berichte aufgenommen. Sie werden Teil des Films. „Es ist den Menschen wichtig, ihre Erlebnisse weiterzugeben. Viele haben zwar Kinder und Enkel, aber die interessieren sich nicht mehr für diese Dinge“, schildert Antje Dohrn ihre Erfahrung aus diesen Gesprächen. Für manche hänge das frühere Leben in Winzig an wenigen geretteten Erinnerungsstücken – an alten Taufbüchern beispielsweise. Die Menschen wüssten oft nicht, wem sie diese Dinge einmal vererben sollen. „Sie fragen sich: Wer wird es aufheben? Wegwerfen können sie es nicht, damit würden sie Leben wegwerfen.“