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Nix mit Natur im Görlitzer Neubaugebiet

Stadt und Großvermieter mähen auch da, wo das Gras noch niedrig ist. Doch was ist mit den Tieren, die dort leben?

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© Peter Richter

Von Ingo Kramer

Görlitz. Peter Richter kann es nicht fassen. „Bei uns in Königshufen sind seit April überall die Rasenmäher zu hören“, sagt der Mieter von der Hussitenstraße. An vielen Stellen sei das Gras gerade einmal zwei bis drei Zentimeter hoch gewesen, als es gemäht wurde. Zum Beweis zeigt er ein Foto, das eine gemähte und eine ungemähte Fläche nebeneinander zeigt. Der Unterschied in der Höhe ist marginal. Allerdings: Auf der gemähten Wiese sind all die Blüten von Löwenzahn und Gänseblümchen weg.

„Genau das ist das Problem“, sagt Richter. Gerade Wildbienen und Schmetterlinge seien auf den Pollen und Nektar der jetzt aufblühenden Pflanzen angewiesen. Bei den Singvögeln beginne die Aufzucht der jetzt schlüpfenden Jungvögel. „Damit das gelingt, sind Insekten und deren Raupen unbedingt notwendig“, sagt der 73-Jährige. Auf einer ständig gemähten Wiese sei da kaum etwas zu finden. „Und natürlich erzeugen die auf Hochtouren laufenden Verbrennungsmotoren eine Menge Lärm, Feinstaub und Abgase“, beklagt Richter.

Er hat in seinem Umfeld drei Verursacher ausgemacht. Seinen eigenen Vermieter Wohnungsgenossenschaft WGG, den städtischen Großvermieter Kommwohnen und die Stadt selbst, die zum Beispiel im Kidrontal mäht. Rathaussprecherin Sylvia Otto verteidigt auf Nachfrage das Mähen der städtischen Flächen. „Der Zeitpunkt des ersten Rasenschnitts wird nicht nach dem Kalender festgelegt, sondern nach der Notwendigkeit aufgrund der Wuchshöhe“, sagt sie. Wo gemäht wurde, sei das auch notwendig gewesen, da es sich um Flächen handele, die als Gebrauchsrasen öfter bearbeitet werden und auf denen das Gras nicht zu hoch werden darf, damit die Flächen nutzbar bleiben. Auf den Langgraswiesen hingegen werde erst später gemäht. Diese Wiesen seien natürlich als Nahrungsquelle für Insekten und Vögel ökologisch wertvoller, aber für Erholung und Spiel weniger gut nutzbar.

Richters Vermieter, die WGG, bezeichnet die frühe Rasenmahd ebenfalls als notwendig. „Es handelt sich um größere Grünflächen, nicht zu vergleichen mit kleinen Gartengrundstücken“, sagt Vorstand Simone Oehme: „Da ist schon aus logistischen Gründen eine andere Herangehensweise erforderlich.“ Eine Veränderung sei nicht geplant: „Der Pflegerhythmus wird nur unterbrochen oder geändert, wenn das aus objektiven Gründen erforderlich wird.“ Die Beurteilung von Grünflächenarbeiten sei aber immer subjektiv: „Der eine Mieter bemängelt, dass das Gras zu hoch steht, der andere sieht das komplett anders.“ Im Übrigen habe sich dieses Jahr außer Richter noch niemand über die Mahd beschwert.

Kommwohnen-Chef Arne Myckert bestätigt die Subjektivität: „Wir mähen sechsmal pro Jahr.“ Das habe sich über die Jahre bewährt und sei das Ergebnis eines langen Prozesses: „Die einen wollen mehr Schnitte, die anderen weniger.“ Natürlich sei der Rasen vor der Mahd nicht überall gleich hoch. Das hänge von Sonne und Schatten ab. Aber überall unterschiedlich oft zu mähen, sei logistisch nicht möglich. Im Übrigen habe Kommwohnen auf einem Abrissgrundstück an der Schlesischen Straße voriges Jahr eine Wildblumenwiese eingesät, die nicht gemäht wird. Und so schlecht sei das Mähen gar nicht. „Die Vögel freuen sich, wenn gemäht wird“, sagt Myckert: „Hinterher finden sie viel mehr Insekten.“

Diese Aussage steht freilich im völligen Widerspruch zur Aussage von Richter. Aufklärung gibt hier der Görlitzer Ornithologe Markus Ritz: „Es ist wie meistens: Die Vielfalt macht’s“, sagt er. Manche Arten, zum Beispiel Amsel und Star, suchen gern auf frisch gemähten Rasenflächen nach Regenwürmern und Insektenlarven, an die sie dann besser herankommen. Artenreiche, höhere Wiesen werden aber auch von vielen Arten zur Nahrungssuche genutzt. In den Gärten seien das vor allem die Finken, Ammern, Meisen und Grasmücken. „Je nach Art benötigen sie spezifische Pflanzen zur Eiablage und als Futterpflanze für ihre Larven“, sagt Ritz. Dann nütze ein kurzer Rasen wenig: „Denn wo nichts blüht, können nur wenige Insekten leben.“

Aus Mietersicht spricht aber noch ein völlig anderes Argument gegen häufiges Mähen: Die Kosten, die letztlich auf die Mieter umgelegt werden. Hier sagen sowohl Simone Oehme als auch Arne Myckert, dass sich nicht genau ausrechnen lasse, was jeder einzelne Mieter sparen würde, wenn pro Jahr einmal weniger gemäht würde. „Es wäre reine Spekulation, mit theoretischen Hochrechnungen Aussagen zu treffen, wie sich die Nebenkosten infolge der Grünflächenpflege zukünftig entwickeln werden“, sagt Simone Oehme.