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Nichts gehört, nichts gesehen, nichts bemerkt

Ein 67-Jähriger Nossener ist einer von 688 Autofahrern, die sich 2015 im Polizeirevier Meißen nach einem Unfall einfach aus dem Staub machten.

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© Symbolbild/dpa

Von Jürgen Müller

Meißen. Es geht schneller als man denkt: Beim Aussteigen auf dem Supermarktparkplatz wird die Tür zu weit geöffnet, und schon hat das Nachbarauto eine Delle oder einen Kratzer. Oder beim Einparken zu viel Gas gegeben, und die Stoßstangen berühren sich. Ein kleiner Schaden nur, kaum sichtbar. Viele Autofahrer nehmen so etwas nicht ernst, fahren einfach weiter. Rund eine halbe Million Autofahrer werden jedes Jahr Opfer einer Unfallflucht. Das schätzt der Automobilclub Europa (ACE). Die Dunkelziffer ist noch viel höher. Viele Geschädigte erstatten gar keine Anzeige.

Hier allerdings ist das anders. Ein 67-jähriger Nossener fährt vor fast genau einem Jahr auf der Waldheimer Straße in Nossen bei einem geparkten Polo den Außenspiegel ab. Auch an der Fahrertür und an der Scheibe gibt es Kratzer. Die Ehefrau des Fahrers sitzt auf dem Beifahrersitz, hört ein Geräusch, doch ihr Mann will nichts mitgekriegt haben. Nach dem Motto „Was kümmert mich fremdes Elend“ und in der Hoffnung, es werde schon niemand gesehen haben, fährt er einfach weiter.

Eine Art Volkssport

Doch die Hoffnung ist trügerisch. Die Besitzerin des Polo steht gerade an der Haustür und raucht, als der Unfall passiert. Sie notiert sich das Kennzeichen des Ford, ihr Mann, der gerade von Arbeit gekommen ist, fährt dem Rentnerehepaar hinterher. An einem Getränkemarkt erwischt er die beiden. Bereitwillig tauschen sie die Personalien aus, dann gehen sie erst mal einkaufen. Danach beschleicht sie wohl ein Gefühl von Reue. Jedenfalls kehren sie an den Unfallort zurück, wollen, dass die Geschädigte die Anzeige zurücknimmt. Zu spät. Sie hat schon die Polizei gerufen.

Nun sitzt der 67-Jährige vor dem Meißner Amtsgericht, zum ersten Mal in seinem Leben. Unerlaubtes Verlassen des Unfallortes wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, landläufig spricht man von Fahrerflucht. Das ist nun mal eben keine Bagatelle, sondern eine Straftat. Und Unfallflucht ist eine Art Volkssport geworden. Im Bereich des Polizeireviers Meißen jedenfalls haben im vergangenen Jahr 688 Autofahrer einen Unfall gebaut und sind danach einfach abgehauen. Das ist ein Anstieg um 25 Prozent gegenüber 2014. Dabei handelt es sich hier nur um die angezeigten Fälle. Die Chance, nicht erwischt zu werden, ist relativ hoch, die Aufklärungsquote liegt bei knapp 40 Prozent, wie Meißens Polizeichef Hanjo Protze sagt.

Entsteht bei einem Unfall ein Schaden von bis zu 1 300 Euro, muss der Fahrer mit einer Geldstrafe in Höhe eines Monatsgehaltes rechnen. Hinzu kommen zwei Punkte in Flensburg und maximal drei Monate Fahrverbot. Bei höheren Schäden wird der Führerschein für mindestens sechs Monate entzogen, es gibt drei Punkte, die übrigens fünf Jahre im Register stehen bleiben. Zudem drohen Geldstrafen, die deutlich über ein Monatsgehalt hinausgehen können.

Das droht hier nicht. Denn es entstand ein Schaden von „nur“ 1001 Euro. Die Versicherung des Angeklagten hat zwar 1384 Euro an die Geschädigte überwiesen, doch darin sind Gutachterkosten enthalten. Dennoch bleibt der Angeklagte bei seiner Darstellung: Er habe nicht gemerkt, dass er einen Unfall verursacht habe. An seinem Auto seien jedenfalls keine Schäden zu finden.

Das dicke Ende kommt noch

Die Frau des Angeklagten will ihren Mann schützen. Vor Gericht will sie jetzt nicht mehr gemerkt haben, dass es zu einem Anstoß an dem Polo kam. Dieser habe schon mehrere Dellen gehabt. Die Besitzerin habe ein Exempel statuieren wollen. „Endlich habe ich mal einen erwischt“, soll sie gesagt haben.

Schon vor Ort habe der Angeklagte eingeräumt, dass sich der Unfall ereignete haben könnte, er habe es nur nicht bemerkt. Er habe den Schaden gleich bezahlen wollen, so ein Polizist. Ein klares Schuldeingeständnis.

Die Frage ist, ob der Angeklagte den Anstoß tatsächlich nicht bemerkt haben kann. Dafür wäre ein teures Gutachten nötig. So weit will es der Staatsanwalt nicht treiben. „Ich glaube schon, dass der Angeklagte das Geräusch gehört hat“, sagt er, spricht allerdings von geringer Schuld und schlägt vor, das Verfahren gegen eine Geldauflage einzustellen. Doch der Verteidiger will einen Freispruch. Hintergrund ist, dass die Versicherung bereits Regressansprüche angekündigt hat, sich das Geld von dem Angeklagten zurückholen, jedoch den Ausgang des Strafverfahrens abwarten will.

Doch einen Freispruch gibt es ohne Gutachten nicht. Und was das aussagen würde, steht noch auf einem ganz anderen Blatt. So wird das Verfahren wegen geringer Schuld eingestellt. Der Angeklagte muss eine Geldauflage von 200 Euro zahlen. Das dicke Ende von der Versicherung kommt wohl erst noch.