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Nicht ohne Narkose

Manche Zahnbehandlung geht nur mit Anästhesie. Der Ruhestand eines Oderwitzer Arztes bringt da Komplikationen.

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© Archiv

Von Anja Beutler

Seit dreieinhalb Jahren kümmert sich Gudrun Jung als ehrenamtliche Betreuerin um Carmen* aus Herrnhut. Frau Jung kennt die 50-Jährige von früher. Carmen ist kräftig und agil, fährt gern im Auto mit und wird manchmal etwas ungeduldig. Allerdings hat die erwachsene Frau den geistigen Stand eines vielleicht dreijährigen Kindes. Das erschwert manches. Seit zehn Jahren lebt Carmen in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung in Sohland am Rotstein. Wenn sie zum Arzt muss, kümmert sich ihre Betreuerin um Termine und fährt in den meisten Fällen auch mit. „Vor allem Zahnarztbesuche sind schwierig, da macht sie nicht den Mund auf“, sagt Frau Jung. Da aber meist einiges zu machen ist, braucht sie eine Narkose.

Bislang war das kein Problem: Der behandelnde Zahnarzt in Großschweidnitz kooperierte mit einem Anästhesisten, der sich auf Fälle wie Carmen spezialisiert hatte. Und das war gut so: Immer wieder hatte die 50-Jährige in den vergangenen Monaten Probleme, mehrfach mussten Zähne gezogen werden – einmal acht auf einen Schlag. Umso herber war die Überraschung, als es im Juni dieses Jahres plötzlich hieß: Eine Behandlung ist nicht möglich, weil der Anästhesist in den Ruhestand gegangen ist und es keinen Ersatz gibt. Von Pontius zu Pilatus telefonierte Gudrun Jung in den folgenden Tagen, denn Carmen hatte Schmerzen. Aber die Zahnärzte im Südkreis winkten ab – entweder hatten sie bislang ebenfalls mit diesem Narkosearzt zusammengearbeitet oder boten derartige Leistungen generell nicht an. Nirgends fand sich eine Möglichkeit, sodass Gudrun Jung am Ende die Dresdner Uniklinik blieb.

Carmens linke Wange war geschwollen, als die beiden Frauen von Sohland nach Dresden fuhren. Vor Ort verschrieb der Zahnarzt dann ein Antibiotikum. Für eine richtige Behandlung war aber noch eine Vorstellung beim Narkosearzt des Klinikums nötig, der aber an dem Tag keine Sprechstunde hatte. Das alles nach quälend langer Wartezeit – Carmen hatte in der Zwischenzeit den Papierkorb auf dem Gang geleert und sich die Bluse aufgerissen. „Sie war unruhig, wollte raus, spazieren gehen“, erinnert sich Gudrun Jung.

Die folgenden Tage brachte Frau Jung, die hauptberuflich als Gruppenbetreuerin im Katharinenhof in Großhennersdorf arbeitet, mit Telefonaten zu. Eine Woche, nachdem bei Carmen Schmerzen aufgetreten waren, gab es mit viel Bitten in Dresden eine Chance. Drei Zähne wurden ihr gezogen. Nun hat Carmen nur noch einen Weisheitszahn. Aber an ein Gebiss ist nicht zu denken, schätzt Gudrun Jung ein. Carmen würde es nicht tragen.

Was Gudrun Jung im Rückblick vor allem ärgert, sind Andeutungen, dass sich an dem Narkosearzt-Problem auch künftig nichts ändern könnte. „Das kann doch nicht sein, dass dann alle nach Dresden müssen“, sagt sie und denkt dabei an die zahlreichen Behinderteneinrichtungen im Kreis wie den Katharinenhof oder auch die Wohnheime in Kemnitz oder Sohland. Das wäre in der Tat schwierig, schätzt Dr. Roland-Nils Quarch ein. Der Anästhesist aus Oderwitz ist nämlich derjenige, der seit 1994 mit den Zahnärzten, aber auch mit Chirurgen und Orthopäden kooperiert hat und sich nun im verdienten Ruhestand befindet. Zwischen 30 und 50 Stammpatienten, die für Behandlungen wie Carmen eine Narkose brauchten, hat er über die Jahre gehabt. „Der Zahnstatus war nach der Wende bei den Behinderten zum Teil katastrophal, das hat sich jetzt inzwischen gebessert“, sagt er. Gebraucht wurden seine Dienste aber dennoch regelmäßig: „In der Regel habe ich an zwei der fünf Arbeitstage immer Termine bei Zahnärzten gehabt“, schätzt er ein. Wenn es etwas Akutes gab, schob er auch einmal einen Besuch dazwischen – er wohnte ja in der Region.

Dass diese Art von Rucksack-Anästhesie nicht jedermanns Sache ist und seine Art zu arbeiten nicht eins zu eins weitergeführt werden würde, hat er erwartet. „Ich habe da die Kollegen in den vergangenen Jahren auch ein bisschen verwöhnt“, sagt er und lacht. Denn es gab und gibt ja nicht nur ihn als Anästhesisten im Süden des Kreises. Aber Dr. Quarch akzeptiert, dass viele Kollegen wenig geneigt sind, ambulante Narkosen bei Behinderten durchzuführen: „Man muss vieles beachten, oftmals bekommen diese Patienten eine Vielzahl von Medikamenten oder es gibt Fehlbildungen, die das Vorgehen erschweren.“

Inzwischen ist aber tatsächlich eine Lösung in Sicht, bestätigt die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen (KVS) auf Nachfrage. Die Ärzte Bernd Heinrich Wagner und Alexander Groh haben den Vertragsarztsitz des Oderwitzers übernommen. Ab September werden sie ihre Tätigkeit am gemeinsamen Sitz in Niesky aufnehmen, teilte KVS-Geschäftsführer Michael Rabe mit. Die beiden Anästhesisten haben bereits eine Praxisgemeinschaft im erzgebirgischen Olbernhau. Bisherigen Informationen, dass sie ambulante Narkosen bei behinderten Patienten pauschal ablehnen, widersprachen sie gegenüber der KVS. „Vielmehr kann jeder ab September mit den beiden Ärzten in der Praxis in Niesky Kontakt aufnehmen und einen Termin für ein Vorgespräch vereinbaren“, betont Rabe. Gudrun Jung hofft, dass diese neue Kooperation funktionieren wird. Damit ein Zahnarztbesuch für Behinderte wie Carmen am Ende kein Marathon wird.

*Name geändert