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Neustart in Görlitz nach 128 Jahren

Ein Paar aus Heilbronn saniert die Jakobstraße 36 mit Fahrstuhl und riesigen Terrassen. Zwei Ladenmieter für das Haus von 1888 gibt es schon.

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© nikolaischmidt.de

Von Ingo Kramer

In goldenen Lettern prangt die Jahreszahl 1888 über den Fenstern des zweiten Stockes an der frisch sanierten Fassade der Ja-kobstraße 36. Das Haus hat damals einen guten Start hingelegt: Ab 1889 gehörte es dem wohlhabenden Tuchfabrikanten Otto Schwetasch, dessen Familie hier sehr vornehm lebte. Doch es kamen auch ganz andere Zeiten: „Anfang der 1990er Jahre hat es im Haus gebrannt, seither lebte darin gar niemand mehr“, sagt Margit Schäfer. 128 Jahre nach dem Bau ist sie es, die zusammen mit Heinz Braun dafür sorgt, dass das Gebäude jetzt einen Neustart erlebt.

Im Hinterhof entsteht ein neuer Anbau für das Ladengeschäft, darüber gibt es auf jeder Etage eine Terrasse.
Im Hinterhof entsteht ein neuer Anbau für das Ladengeschäft, darüber gibt es auf jeder Etage eine Terrasse. © nikolaischmidt.de
Der alte Kamin im zweiten Stock bleibt erhalten. Eine Kanzlei will diese Etage ab Anfang 2018 beziehen.
Der alte Kamin im zweiten Stock bleibt erhalten. Eine Kanzlei will diese Etage ab Anfang 2018 beziehen. © nikolaischmidt.de
Vor wenigen Tagen ist das Gerüst gefallen. So ist auch der neu eröffnete Mayerei-Laden (unten rechts) sichtbar.
Vor wenigen Tagen ist das Gerüst gefallen. So ist auch der neu eröffnete Mayerei-Laden (unten rechts) sichtbar. © nikolaischmidt.de

Das Paar aus Heilbronn hat das Haus im Jahr 2013 gekauft und steckt nun mitten in der Sanierung. Im Parterre entstehen zwei Läden, darüber eine große Wohnung, im zweiten Stock Räume für eine Kanzlei und im dritten und vierten Stock noch vier weitere Wohnungen. „Sie alle werden auch per Rollstuhl erreichbar sein“, sagt Margit Schäfer stolz. Der neu eingebaute Fahrstuhl ist von der Haustür aus schwellenlos erreichbar – und auch auf den einzelnen Etagen verbaut keine Schwelle die Durchfahrt. Sogar die Duschen sind bodentief. Allerdings will das Paar kein reines Seniorenwohnen schaffen: „Wir beziehen selbst eine Wohnung und die anderen würden wir an jüngere Leute genauso vermieten wie an ältere.“ Welche Wohnung sie selbst nutzen wollen, ist noch offen. „Sie haben alle ihren Reiz“, sagt Margit Schäfer. Im dritten Stock gibt es eine riesige 40-Quadratmeter-Terrasse, aber in der vierten Etage ist der Blick noch besser und dort sind tolle Räume und innenliegende Balkone geplant. Das macht die Entscheidung schwer.

Auf Görlitz aufmerksam geworden sind die beiden durch den Bruder von Heinz Braun. Er lebt schon seit über 20 Jahren hier. Heinz Braun hat ihn schon früher besucht, doch bevor er seine Frau zum ersten Mal mit an die Neiße nahm, prophezeite er ihr: „Wenn Du diese Stadt siehst, wirst Du nicht mehr nach Hause fahren wollen.“ Er sollte recht behalten. „Mein Herz schlägt für die Gründerzeit“, sagt Margit Schäfer. In Heilbronn gebe es nicht viel alte Bausubstanz. Das meiste ist dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen, stattdessen wurde die Stadt im Stil der 1950er Jahre wieder aufgebaut. In Görlitz hingegen ist fast alles erhalten, kaum ein Neubau stört das Bild: „Da war ich total überwältigt.“

Doch sofort nach Görlitz ziehen? Beide hatten mit ihrer Arbeit voll zu tun. Er ist Handwerker, hat einen kleinen Tiefbaubetrieb. Sie hat als Touristikerin Reisekataloge erstellt und weltweit Gruppen betreut: „Im Durchschnitt war ich fünf Monate im Jahr unterwegs – und wenn ich zu Hause war, dann meist im Stress.“ Doch mittlerweile waren beide um die 50. Und bei einem runden Geburtstag, so Margit Schäfer, überdenke man schon mal sein Leben: „Da habe ich mich gefragt, ob ich so weitermachen will.“ Die Antwort hieß nein, nach ein paar Flügen mit Todesangst hatte sie vor allem keine Lust mehr auf die Vielfliegerei.

Also ein Neustart an der Neiße. Vor zweieinhalb Jahren zog das Paar nach Görlitz, und zwar zur Miete in die Jakobstraße 32, vier Häuser entfernt von ihrem jetzigen Domizil. Der Tiefbaubetrieb ihres Mannes zog mit nach Görlitz und sie selbst wollte wieder als Touristikerin arbeiten, vielleicht eine kleine Pension leiten. Allerdings fand sie dafür kein geeignetes Objekt. Stattdessen kauften sie 2013 die Jakobstraße 36 und nahmen sich danach Zeit für die Planung. „Das bereits eingestürzte Hinterhaus haben wir mit unseren eigenen Maschinen selbst abgetragen“, sagt sie. Für das Vorderhaus hingegen stand schnell fest, den alten Zustand wieder herzustellen: Zwei Gewerbeeinheiten im Parterre, darüber Wohnungen. Nur die Details haben sich seither immer wieder geändert. Weil sich eine Steuerkanzlei für den zweiten Stock begeistert hat, wird diese Etage nun doch nicht zu Wohnraum, sondern nach den Wünschen der Inhaber hergerichtet. „Die Kanzlei will Anfang 2018 einziehen, dafür haben wir also noch Zeit“, sagt die 53-Jährige.

Stattdessen stecken sie und ihr ein Jahr jüngerer Mann jetzt alle Kraft ins Parterre. Im kleineren Laden hat Ende Oktober der Bekleidungs- und Krimskramsladen „Mayerei – 7 Sachen & mehr“ eröffnet. Auch für den großen Laden gibt es schon einen Mieter, der innerhalb von Görlitz umziehen will. Den Namen wollen die Hausherren noch nicht nennen, nur so viel: Er verkauft unter anderem Bekleidung. Und: Die vorhandenen 125 Quadratmeter Ladenfläche reichen ihm nicht. Deshalb entsteht derzeit im Hof ein Anbau mit weiteren 75 Quadratmetern. Außerdem soll künftig eine Innentreppe in den Seitentrakt der ersten Etage führen, wo der Laden sein Lager und Büro einrichten will. „Ende Februar ist Eröffnung, vielleicht sogar schon etwas früher“, sagt Margit Schäfer. In Kombination mit der Jakobpassage genau gegenüber hofft sie auf eine Belebung der Straße.

Nach der zweiten Ladeneröffnung geht es mit der Sanierung der Wohnungen weiter, zuletzt folgen die Kanzleiräume und der Hof, wo es zehn Stellplätze geben wird. „In anderthalb bis zwei Jahren werden wir mit allem fertig sein“, schätzt sie. Bis dahin steckt das Paar alle Kraft ins Haus, hat die Bauleitung übernommen, achtet auf alle Details, will möglichst vieles originalgetreu erhalten. Wenn der Bau geschafft ist, will Margit Schäfer tatsächlich wieder im Tourismus arbeiten: „Görlitz bietet in meiner Branche genügend Möglichkeiten.“